Die schlafende Stadt
unwillig.
„Du bist mich gleich los. Und zwar für immer. Ich mache dieses verächtliche Gedöns von dir nicht mehr mit. Von mir aus kannst du mit jedem Intendanten oder Startenor ins Bett gehen, es ist mir fortan egal.“
Sie sah ihn hochmütig an.
„Ich bin nicht bereit, irgendetwas an mir zu verändern“, erklärte sie.
„Das musst du nicht. Mach’ du so, wie du es für richtig hältst. Ich wünsche dir viel Spaß und Erfolg.“
Auf ihrem Gesicht erschien ein leises Lächeln.
Berthold runzelte die Stirn. Ob sie ihn nicht ernst nahm? Oder war er ihr tatsächlich so wenig wichtig?
„Wir sehen uns vielleicht niemals wieder“, sagte er sanft.
„Ach, wer weiß das schon“, sagte sie. Ihre Augenlider waren halb geschlossen, und sie setzte ein überlegenes Grinsen auf. Wieder öffnete sie sinnlich ihre vollen Lippen. „Mal sehen, wie das Leben so spielt.“
Berthold wandte sich ab.
„Tschüss“, sagte er noch einmal.
„Tschüss“, sagte sie und schloss die Tür.
Berthold ging es plötzlich hervorragend. Es war ihm, als habe er eine gewaltige Last abgeworfen. Verblüfft stellte er fest, dass er nicht das geringste schlechte Gewissen verspürte. Stattdessen war es ihm, als säßen alle Männer seiner Familie bei ihm und klopften ihm auf die Schulter, allen voran Dankwart, sein unbekannter und doch so naher Urgroßvater.
Bestens gelaunt und ruhig fuhr er nach Hause. Er war euphorisch und lachte. Laut begann er zu singen.
Von Lenis Vergewaltigung kündeten nur noch wenige rote Stellen an ihrem Körper. Ihr Gesicht war verheilt, die Schwellungen waren verschwunden. Erstmalig seit ihrer Entlassung aus der Klinik saß sie an ihrem Tisch und entwarf ein neues Bild.
Was geblieben war, war die traumatische Erinnerung an das, was sie durchlitten hatte. Jetzt, wo sie keine Schlafmittel mehr bekam, quälten sie oft Albträume. Oft schrak sie mitten in der Nacht auf, und konnte dann oft viele Stunden nicht einschlafen. Dies machte ihr einen anderen Schmerz einmal mehr bewusst: Niemand war für sie da. Esther hatte sie einmal besucht. Und jener junge Mann, der sie gefunden hatte. Und abgesehen von einem kurzen, schönen Traum von einem zärtlichen Fremden, der sie liebevoll geküsst hatte, war niemand bei ihr gewesen. Ihre Eltern hatten gegen Ende der Behandlung einmal angerufen, und waren beruhigt gewesen, dass es ihr offenbar besser ginge. Ihre Mutter hatte gleich wieder von Irmela erzählt.
Und doch hatte sich etwas verändert. Sie hatte jegliche Angst vor dem Tod verloren. Sie wusste seitdem, dass ihr nichts Schlimmes bevorstand nach dem Sterben, und sie hatte nun auch die Gewissheit, dass sie weiterexistieren würde, auch nach dem, was man üblicherweise „das Leben“, nennt.
Schwester Rosi hatte ihr am Tag des Abschiedes wortlos die Todesnachricht ihres Vaters gezeigt, ein Kondolenzbild, dass ihre Schwester offenbar hatte anfertigen lassen. Es zeigte einen älteren Mann mit runder Brille und weißem Kinnbart.
„Wie konnten Sie das wissen?“ hatte Schwester Rosi fassungslos gefragt.
„Ich wusste es nicht. Der Mann war einfach gekommen. Er versuchte, mit Ihnen zu sprechen, aber er konnte es nicht.“
Rosi sah die junge Frau an. Jetzt, wo sie wieder bei Kräften war, wirkte sie fast unheimlich, etwas dämonisch geradezu mit ihrem schönen, ernsten Gesicht, dem schwarzen Haar und den strahlend grünen Augen, die durch die leichten Schatten darunter noch rätselhafter wirkten. Sie hätte nicht entscheiden können, ob sie ein Geschöpf des Lichtes oder ein Engel der Finsternis war.
Leni saß nach langer Zeit wieder vor ihrem Zeichenblock. Ihr Blick ging zunächst in die Ferne, auf den beginnenden Herbst, der sich durch die Buchen des Parks ankündigte, den sie durch ihr Fenster sehen konnte. Der Herbst. Eine schicksalhafte, aber dennoch kraftvolle Jahreszeit, in der sie oft ihre besten Ideen hatte. In der oft etwas Entscheidendes passierte.
Ihre Hand führte das Bild aus, das vor ihrem geistigen Auge entstanden war. Ein Gebäude, das aussah wie ein mystischer Tempel aus ferner Zeit. Mit seiner Anlage aus mehreren Stockwerken, die sich nach oben hin verjüngten und dem zwölfeckigen Grundriss erinnerte es an einen monumentalen Bienenstock. Die Flächen waren ausgefüllt mit klassischen Rundbögen, unter denen sich Figurenreliefs befanden, und die Kanten endeten jeweils in einer Säule, die von einer Figur gekrönt war. Das Gebäude endete in einer Kuppel, die sich an ihrem höchsten Punkt in
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