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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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das bin ich auch nicht“, sagte er, „und ich hatte auch lange Zeit keine Erklärung dafür.“
    „Das heißt, dass du jetzt weißt, woher deine Angst kommt?“
    „Ja ... aber es ist so eigenartig, dass das kaum jemand versteht. Ich selbst verstehe es ja kaum ... und dann doch wieder.“
    Auf Lenis fragenden, aufmerksamen Blick kam er nicht umhin, genauer zu antworten.
    „Eine Psychotherapeutin brachte mich darauf. Jemand, den ich wirklich als weise alte Frau bezeichnen würde. Sie sagte mir, dass ich womöglich von Gefühlen erfüllt bin, die nicht wirklich meine sind, sondern zu einem Menschen gehören, zu dem ich eine besondere Verbindung habe. So eine Art Übernahme.“
    Er blickte Leni etwas unsicher an.
    „Klingt ziemlich schräg, was?“
    „Überhaupt nicht.“
    Leni sagte das so bestimmt, als sei ihr das Gesagte so klar und geläufig wie das Gesetz der Schwerkraft.
    „Aber ich fand heraus, dass meine Gefühle zu meinem Urgroßvater passen. Ich habe ihn nie kennengelernt.“
    „Dein Urgroßvater hatte Angst?“
    „Das nehme ich mal schwer an. Er ist ganz früh gestorben. Er ist keine siebenunddreißig Jahre alt geworden. Er starb im Krieg, weit weg von allen, die er liebte. Seinen jüngsten Sohn, meinen Opa, hat er nie gesehen. Er hat aber von seiner Geburt erfahren, durch einen Brief von meiner Uroma.“
    Berthold spürte wieder diese Traurigkeit, die immer kam, wenn er sich mit diesem Thema befasste.
    „Er ist dann erfroren. Erfroren, als er ein paar seiner Kameraden durch die Berge führte. Sie haben es dadurch überlebt, aber er hat es nicht mehr geschafft.“
    Eine Träne rann über sein Gesicht. Leni umarmte ihn und küsste ihn lange.
    Berthold sah verzückt in ihr schönes Gesicht. Er würde es ihr erzählen können. Wenn jemandem, dann ihr.
    „Das Verrückte daran ist: Ich habe davon geträumt, von einer ganz speziellen Szene. Es war ein entsetzlicher Alptraum von einem widerlichen, brutalen Kerl, irgendeinem Soldaten, der mich demütigte und misshandelte. Der Traum endete mit seinem Tod, der qualvoll und absolut grauenhaft war. Und genau diese Szene habe ich, sehr viel später erst, in seinem Kriegstagebuch gelesen. Sie war exakt so beschrieben wie in meinem Traum. Jedes Wort hat gestimmt. Nur dass der Geschlagene und Getretene diesmal nicht ich war, sondern Dankwart, mein Urgroßvater.“
    Leni hatte ihm gebannt zugehört.
    „So. Jetzt denkst du bestimmt, ich bin übergeschnappt“, sagte Berthold.
    „Du siehst ihm ähnlich, nicht wahr?“
    „Nun ... angeblich ja ...“
    „Er hat auch so ein markantes Gesicht wie du. Dunkle Augen, lange, gerade Nase. Und er trug seine schwarzen Haare bis in den Nacken.“
    Berthold starrte sie an.
    „Jetzt ist es an dir, mich für bescheuert zu halten“, sagte sie.
    „Aber woher ...“
    „Ich weiß es nicht. Ich sah ihn im Traum.“
    Sie lächelte jetzt etwas verschämt.
    „Er ... er hat mich geküsst. Genauso, wie du mich heute geküsst hast.“
    Sie lächelte, als sie Bertholds leichten Anflug von Eifersucht in seinem Gesicht sah.
    „Vielleicht habe ich ja in Wahrheit von dir geträumt“, sagte sie sanft. „Du warst mich besuchen, einige Tage zuvor. Schon damals hast du mir gefallen.“
    Sie wechselte das Thema.
    „Ich wohne gleich dort drüben. Wir können zu mir gehen.“
    Sie schmunzelte jetzt. Sie sah jetzt aus wie jemand, der etwas ausheckt. Berthold fühlte inmitten seiner überwältigenden Liebe etwas Unheimliches.
    „Hast du Bilder von deinem Urgroßvater?“
    „Ja.“
    „Darf ich sie sehen?“
    „Aber natürlich.“
    „Dann lass uns zu dir gehen.“
    Sie schmiegte sich an ihn und genoss seine Nähe, als sie jetzt den Weg zu seinem Auto einschlugen.
    „Sag: Diese weise Frau, deine Psychotherapeutin, wie heißt sie?“
    „Rebecca Goldblatt.“
    Leni schwieg.
    „Was ist mit ihr?“ fragte Berthold.
    „Ich kenne sie.“
    „Du kennst sie!?“
    „Sie war der erste Mensch, der je ein Bild von mir gekauft hat. Für mich begann dadurch etwas ganz Neues. Nie zuvor hat mich jemand so ernst genommen wie sie.“

Ich fühlte wohl,
dass etwas Außergewöhnliches vorging.
Ich schloss ihn fest in die Arme
wie ein kleines Kind,
und doch schien es mir,
als stürzte er senkrecht in einen Abgrund,
ohne dass ich imstande war,
ihn zurückzuhalten.
    Antoine de SAINT-ÉXUPÉRY, Le Petit Prince

    W irbelnd und brodelnd rauschte der Bogen über die Saiten, rasten die Finger über das Griffbrett, wild strömte die Melodie aus dem Violoncello des

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