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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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verachtete ihre Brutalität und Pöbelhaftigkeit zutiefst, insbesondere die SA verglich er insgeheim mit einer Horde wildgewordener Affen. Keine Spur von Disziplin, darüber konnten auch die Uniformen nicht hinwegtäuschen. Andererseits war es höchste Zeit für Aufbruch und Erneuerung. Die bisherige Demokratie hatte versagt, und sie war ihm in vielerlei Hinsicht ein Dorn im Auge gewesen. Zu viele Einschränkungen, zu viel Kontrolle im Sinne einer staatlich gelenkten Gerechtigkeit, zu viel Schwäche. Nachtmann misstraute diesen demokratischen Ideen zutiefst. Er zog es vor, auf seine Weise das Geschehen zu beeinflussen.
    In seinem versteinerten Herzen regte sich jetzt eine Mischung aus Wut und Enttäuschung, kalt und gefroren, aber noch deutlich genug, um das zu erfühlen, was er nie wieder in seinem Leben fühlen wollte. Einmal mehr war er mit etwas konfrontiert, was er bisher nicht so hatte formen können, wie er es gewollt hatte.
    War es möglich, dass sein einziger Sohn sein Feind war?
    Seine Strenge, seine Genauigkeit, seine ganze Präsenz hatte es nicht geschafft, aus Harald einen strategischen, kühl kalkulierenden Kaufmann zu machen. Anstatt sich zu seinem Nachfolger berufen zu fühlen, spielte er Cello.
    Nachtmann hatte kein Ohr für Musik. Sie störte ihn geradezu beim Ausarbeiten seiner Konzepte. Die einzige Musik, die er schätzte, war das Surren der Webstühle in seinen großen Produktionshallen. Oder höchstens die Hymne von Deutschland, dem Land, dem er sich verpflichtet fühlte, jenem großen Volk, das, gedemütigt durch die Siegermächte, sich gerade wieder aufrichtete, geschlagen und doch wieder stolz, dank ihm und all derer, deren Schweiß und Blut hineinfloss in die pulsierenden Maschinen, die rauchenden Schornsteine, die steinernen Mauern, wo all das entstand, was das Land erhöbe über all die anderen. Es produzierte die besten Stoffe, den härtesten Stahl, die schnellsten Züge, die leistungsstärksten Flugzeuge, die weitesten Straßen. Nichts, aber auch gar nichts hatte Harald davon verstanden. Er verfluchte sich jetzt dafür, dass er sich hatte hinreißen lassen, Harald in seiner Musik gewähren zu lassen, ja sogar zu unterstützen. Sogar einen leisen Anflug von Stolz hatte er verspürt, als Harald das erste Mal öffentlich vorspielte, damals, als Zwölfjähriger. Wie töricht!
    Doch dies war lange vorbei. Je älter Harald wurde, desto ablehnender wurde Nachtmann gegen diese Musik, die seinen Sohn träumen ließ, anstatt dass er sich mit der harten Realität auseinandersetzte. Während sein Vater das Land erstarken ließ, widmete er sich süßen Melodien. So wurde dieses Violoncello zu einem Symbol seines Hasses. Er wollte keinen weichen, weibischen Sohn. So konnte man nicht bestehen in diesem harten, unerbittlichen Dasein.
    Wie eine Krankheit war sie, diese sogenannte Kunst. Sie schlich sich ein wie ein Bazillus und infizierte selbst Mitglieder guter Familien, gesteuert durch diese Juden, die begonnen hatten, sich überall einzunisten und alles zu dominieren. Überall saßen sie: An ausgesuchten Stellen am Theater, im Film, in den Museen, und natürlich beim Geld, von dem alles abhing, durch das alles gelenkt wurde. Fürwahr, das hatten die Völkischen gut erkannt. Erst durch Harald war ihm das klar geworden.

    Er war sein Feind. Sein eigener Sohn! Jetzt war es sicher. Das kurze Gespräch mit seinem alten Kriegskameraden von Kummerow hatte seine Befürchtungen bestätigt. Nun würde er handeln.
    Wie üblich brachte er erst seinen Arbeitstag zu Ende. Er verließ seinen Schreibtisch nicht eher, bis alles erledigt war. Nie würden Briefe oder Formulare bis zum nächsten Tag auf dieser Arbeitsfläche verbleiben. Dann setzte er seinen Hut auf und begab sich zu seinem Wagen.

    Harald kannte diesen Gesichtsausdruck, als er jetzt vor seinem Vater stand. Eigentlich hatte er seine Enttäuschung kundtun wollen, dass sein Vater zu seinem ersten bedeutenden Konzert nicht erschienen war. Normalerweise ignorierte sein Vater sein Tun. Doch stattdessen fand er sich heute nun, Wochen nach jenem Konzertereignis, als Angeklagter wieder.
    „Du hast neulich konzertiert?“
    Natürlich hatte er konzertiert! Was für ein Narr war sein Vater? Dieses unbewegliche, ernste Gesicht, diese leise, gefährliche Stimme mit ihrem metallischen Klang. Harald hasste und fürchtete sie. Gleichzeitig verachtete er ihn für diese Leblosigkeit, diese Kälte, dieses völlige Fehlen auch nur jeder Andeutung von Humor.
    „Ja. Und es

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