Die schlafende Stadt
Berthold gezahlt hatte und sie sich anschickten, das Restaurant zu verlassen, konnte er sein Zittern wiederum kaum abstellen. Er half Leni in den Mantel, sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln. Gleich, gleich würde es geschehen.
Die Sonne war schon im Untergehen und tauchte die Welt in ein letztes goldenes Licht. Es begann schon frisch zu werden. Noch war alles erfüllt von dem Ausklang des Sommers, ebenso lieblich wie schwer, doch man konnte schon den Herbst atmen. Natürlich, der September war gerade zu Ende gegangen, der Oktober war gekommen, und es begann die Zeit der Gemütlichkeit, des heimeligen Rückzugs.
‚ Eigentlich eine wunderbare Zeit, um sich zu Verlieben’ dachte Berthold. Sie hatten das „Los Papagayos“, verlassen, und nach drei Schritten umschlang er Leni endlich und drückte sie an sich.
Leni umarmte ihn mit all ihrer Sehnsucht nach Nähe, die sie in sich trug. Erregt bot sie ihm ihren Mund. Ihre Zungen liebkosten einander, ihr beider Atem vermischte sich. Berthold atmete ihren Duft, strich durch ihr herrliches, schwarzes Haar. Dann erforschten seine Lippen ihr ganzes Gesicht. Er küsste ihre Augen, ihre Stirn, ihren wundervollen Nasenrücken, ihre Wangen, Schläfen, das Kinn, ihren Hals. Manchmal erschien ihm alles ganz unwirklich, dann wieder wurde ihm bewusst, wen er da in seinen Armen hielt, und eine Welle von Erregung überflutete ihn.
Leni stellte inmitten ihrer leidenschaftlichen Ergriffenheit erleichtert fest, welch begehrliche Gefühle in ihr wallten. Berthold war eine völlig andere Art von Mann als jener widerliche Kerl, dem sie auf so furchtbare und ekelhafte Weise ausgesetzt gewesen war. Jetzt war es ihr, als ob jede zärtliche Berührung, jeder Kuss sie heilte. Jetzt, wo sich ihre Zungen wieder und wieder berührten, wirkte es, als ob eine Wunde nach der anderen sich schlösse. Sie wurde in diesen Momenten wieder zu einer vollständigen Frau, und alles, was geschehen war, fiel von ihr ab wie ein altes, verbrauchtes, beschmutztes Hemd, das nicht mehr zu ihr gehörte.
Verliebt sahen sie sich an. Lenis Augen strahlten wie zwei Sterne.
„Ich will dich gar nicht mehr weg von mir lassen“, sagte Berthold.
„Ich möchte dich in meinen Armen halten, am liebsten die ganze Nacht.“
Leni sagte nichts. Sie sah ihn nur an.
„Wenn es nicht zu früh für dich ist ...“, fügte Berthold hinzu.
Leni hatte in seinem Gesicht bereits gelesen.
„Ich möchte auch nicht, dass du heute fortgehst“, sagte sie.
Arm in Arm spazierten sie durch den herbstlichen Park. Leni spürte eine wundervolle Wärme, die von Berthold ausging. Sein Arm um ihre Schultern wirkte stark und zärtlich, wie ein Schutzmantel. Zwischendurch hielten sie immer wieder an, um sich anzusehen, so als wolle jeder sich vergewissern, dass dies kein Traum war.
Sie erreichten die große alte Eiche.
„Mein Lieblingsbaum“, sagte Leni. „Ich kann ihn von meinem Zimmer aus sehen.“
Berthold strich andächtig über die rissige Borke des mächtigen Stammes.
„Ich werde immer ruhig und gelassen, wenn ich hierhin komme“, sagte sie. „Vieles mag unberechenbar sein, aber hier bleibt alles so, wie ich es kenne. Veränderung ist ganz sanft und unmerklich, und sie kehrt wieder, so wie die Blätter jetzt gelb werden, die Natur im Winter schläft, aber tief in der Erde wächst und lebt alles im Verborgenen. Selbst die dunkle, kalte Zeit bereitet vor für das, was kommt. Und bald ist wieder Frühling, mit all seinem Grün, mit all seinen Blüten.“
Berthold schwieg beeindruckt. Lenis Worte wirkten wie ein Gebet.
„Ich habe auch immer an die hellen und warmen Zeiten gedacht, als es mir schlecht ging und versucht, nach vorne zu schauen“, sagte er.
„Was waren das für Zeiten?“
Leni streichelte seine Wange.
„Eigentlich ist diese Zeit jetzt. Zumindest vor kurzem ging es mir noch ... nicht sehr gut.“
„Aber was hattest du?“
Berthold scheute sich jetzt, ihr seine Schwäche zu offenbaren, wo er doch gerade jetzt für sie so stark sein wollte.
„Ich weiß es nicht genau“, sagte er zögerlich. „Ich hatte Angst. Furchtbare Angst. So stark, dass ich sie meinem ärgsten Feind nicht wünschte.“
„Ich kenne das.“
Es wirkte wie eine Erlaubnis, ja wie eine Aufmunterung.
„Aber du wirkst nicht wie jemand, der furchtsam ist“, sagte sie.
Bertholds Geständnis schien ihr nicht das Geringste auszumachen. Er fühlte wieder eine Woge von Liebe in seinem Herzen, womöglich noch tiefer als bisher.
„Nein,
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