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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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richtete er sich auf und griff dem Bewusstlosen unter die Arme. Keuchend schleifte er ihn fort, wieder zurück, in Richtung Mauer. Ein Trupp Soldaten stürmte vorbei, ohne von ihnen Notiz zu nehmen, nahm Stellung und sandte ein Trommelfeuer auf den Feind. Entsetzensschreie in einer fremden Sprache waren von weitem zu vernehmen. Ein Mann brüllte mit überschlagender Stimme einen Befehl auf russisch.
    Darius schleppte den Verwundeten hinter die Mauer. Er blickte in das junge, blutverschmierte Gesicht.
    „He, Junge!“ rief er verhalten. Er wischte ihm den Dreck aus den Augen und den Haaren, so gut er konnte. Schluchzend sah er in das leblose Gesicht. Er sah genauso aus, wie der junge Mann auf der Lichtung, aber er war es nicht. Merkwürdigerweise war er ihm noch viel vertrauter, noch näher. Er lag in Darius’ Armen wie ein Stück von ihm selbst.
    „Du kommst wieder nach Hause! Versprich es mir!“ sagte Darius unter Tränen. „Ich sage deiner Mutter, dass du wiederkommst! Und deiner Frau und deinen Kindern, wenn du welche hast!“

Die Zauberinnen sollst du
nicht leben lassen ...
Es ist ein gerechtes Gesetz,
dass sie getötet werden,
sie richten viel Schaden an.
    Martin LUTHER

    L eni sah Berthold aufmerksam in die Augen. Sie saßen an einem kleinen Holztisch in dem mexikanischen Restaurant, das Berthold ausgesucht hatte, und warteten auf das Essen, das laut Speisekarte köstlich zu sein versprach. Sie liebte scharfe Speisen, und das frische Bier, das in einem großen Glashumpen vor ihr stand, machte sie hungrig. Gemütlich war es, richtig heimelig mit den farbenfrohen, folkloristischen Dekors, vor allem den vielen Holzpapageien, die überall zu sehen waren, und natürlich der mexikanischen Musik, die sich gegen die vielen Stimmen der Gäste doch hin und wieder durchzusetzen vermochte.
    Nett war er, wirklich nett. Er sah gut aus, schlank, ernst, intelligent und sogar richtig witzig. Sie fühlte sich wohl bei ihm. Aber bereits der erste Blick damals hatte ihr gesagt, dass sie von ihm nichts Schlechtes erwarten konnte.
    Lediglich ihre leidvollen Erfahrungen kamen ihr in die Quere. Konnte es sein, dass er auch sie so anziehend fand wie sie ihn? War es überhaupt möglich, dass sie vielleicht bald nicht mehr alleine zu sein brauchte? Der kühne Gedanke erschreckte sie förmlich.
    Er lächelte zu ihr herüber. Richtig liebevoll sah er aus. Ob er wirklich sie meinte? Oder war sie nur eine von vielen? Oder war hinter der charmanten Fassade womöglich etwas Brutales, Zerstörerisches?
    Berthold blickte fasziniert in Lenis geheimnisvoll anmutendes Gesicht. Die strahlend grünen Augen waren ihm bei seinem Besuch im Krankenhaus noch gar nicht so aufgefallen, so müde und schwach war sie damals gewesen. Jetzt aber leuchteten sie wie Smaragde, oder noch eher wie ein tiefer, grüner See im Inneren eines verzauberten Waldes, das Tor zu einer anderen Welt.
    Jetzt, wo er merkte, dass sie sich wohl fühlte, war er schon viel ruhiger. Aber mit dem „Los Papagayos“, konnte man gottlob nicht viel falsch machen. Einige Male schon hatte sie ihm heute ein wundervolles Lächeln geschenkt. Auch Margit hatte ihn oft verführerisch angelächelt - um ihn danach wieder zurückzuweisen. Ob sie anders war? Er rätselte noch, ob er sich in Leni verlieben könnte, aber ein Teil von ihm hatte sich wohl schon entschieden. Er konnte nicht anders, als sie immerfort anzusehen.
    „Ich muss gestehen, ich bin ganz schön nervös“, sagte er wahrheitsgemäß und nahm einen ordentlichen Zug aus seinem Bierkrug.
    „Warum?“ fragte sie, obwohl sie ahnte, dass es der Grund war, den sie erhoffte. Etwas scheu sah sie vor sich auf die Tischplatte.
    „Naja ... wie das halt so ist, wenn einem jemand wichtig ist ...“
    Leni schossen die Tränen in die Augen. „Es ist schön, dass du das sagst“, sagte sie. Ihr üblicher Zweifel wollte sich melden, aber sie wusste, dass er ehrlich die Wahrheit sagte.
    „Ich habe so viel an dich gedacht, und mich gefragt, wie es dir wohl geht.“
    Leni versuchte zu verbergen, wie sehr sie sich freute. Dann sagte sie: „Es ist wundervoll zu wissen, dass jemand an mich denkt. Ich habe so oft den Eindruck, alleine auf dieser Welt zu sein.“
    Sofort bekam sie Angst, zuviel gesagt zu haben.
    Berthold wusste es plötzlich. Sie fühlte für ihn ähnlich wie er für sie. Er empfand jetzt jene seltsame Mischung aus großer Erregung und Sicherheit. Etwas unsagbar Schönes würde jetzt gleich passieren, etwas, woran er sein ganzes

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