Die schlafende Stadt
Leben denken würde.
Er wusste selbst nicht, woher er diesen Mut nahm, aber er streckte den Arm aus und nahm ihre Hand. Sie ließ es geschehen und legte ihre andere Hand auf die seine. Eine warme, feingliedrige Hand. Er spürte sie bis tief in sein Innerstes. Es war fast schmerzhaft.
Sämtliche Bilder schöner Frauen, die Berthold je gesehen hatte, erloschen mit einem Mal aus seinem Herzen. Er sah nur noch sie, und sie war in diesem Moment der Inbegriff aller Schönheit dieser Welt.
Er streichelte sanft ihre schlanken Hände. Sein Herz begann wie wild zu hämmern. Sein ganzer Körper zitterte plötzlich.
Dann beugten sie sich beide vor und sie küssten sich.
Es war nur ein einziger, noch so vorsichtiger, andächtiger Kuss, aber ihre Seelen berührten einander in Leidenschaft.
Sie sahen sich nur an und sagten nichts. Im Schein der Kerze, die an ihrem Tisch brannte, verschwand alles um sie herum in einer warmen Dunkelheit. Es gab nur noch diese beiden Menschen, die sich gerade aufs Innigste miteinander verbunden wussten, und die sich in dem warmen, flackernden Licht bezaubert ansahen.
Einen kurzen Augenblick blitzte eine Erinnerung vor Lenis Augen auf. War es Erinnerung? Es war, als sehe sie ein Bild, das auftauchte. Anstatt Bertholds Gesicht sah sie das jenes zärtlichen Fremden, der sie in jener Nacht sanft geküsst hatte. Erst jetzt wurde ihr klar, dass Berthold ihm ähnlich sah.
Berthold durchbrach die Stille als erster. Er bemühte sich, das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken.
„Es mag vielleicht merkwürdig klingen, aber mir ist, als hätte ich dich schon lange gesucht und endlich gefunden.“
Es klang abgedroschen und banal, er merkte es im gleichen Augenblick. Trotzdem war es einfach wahr. Jetzt erschien es ihm absurd, so viel Zeit und so viel Gefühl mit jemandem wie Margit verschwendet zu haben.
Das Essen kam. Obwohl er hungrig war, hatte er Schwierigkeiten, etwas herunterzubekommen. Er bemerkte freudig, dass es Leni zu schmecken schien. Genüsslich machte sie sich über das geschnetzelte Rinderfilet mit Zwiebeln, Chillies und Guacamole her.
Berthold wurde unsicher. Offensichtlich war sie weit weniger erregt als er. Er trank einen Schluck Bier und versuchte seine gefüllten Enchiladas. Es schmeckte köstlich wie immer im „Los Papagayos“, doch seine Aufmerksamkeit war nur bei diesem überirdischen Wesen, das ihm gegenüber saß.
Fasziniert beobachtete er sie. Jede ihrer Bewegungen war von besonderer Anmut. Ihre schlanke Hand, wie sie die Gabel hielt. Die Art, wie sie ihre sinnlichen Lippen öffnete, um sich einen neuen Bissen in den Mund zu schieben. Selbst die genussvolle Art, wie sie auf beiden Backen kaute, war hinreißend. Sie tat es mit Lust und Freude, keinerlei affektiertes Getue hemmte den Ausdruck, und doch waren alle ihre Gesten betörend poetisch und voller Eleganz.
Sie lächelte zu ihm hinüber. Reizende, kleine Lachfältchen bildeten sich an ihren Augenwinkeln. Berthold fühlte eine Welle von glühendem Verlangen in sich aufsteigen. Er fragte sich, wie wohl ihre Füße aussehen mochten. Bestimmt ebenso schlanke, wohlgeformte Füße wie ihre Hände.
Und natürlich immer wieder diese Augen. Berthold fiel erst jetzt auf, was für lange Wimpern sie hatte.
„Isst du nichts?“
Die Frage klang ganz arglos, wäre sie nicht von jenem leicht schelmischen Lächeln begleitet gewesen.
Berthold fühlte sich durchschaut.
Aber warum auch nicht? Warum sollte er Theater spielen? Er war verliebt, rasend verliebt. Ein guter Lügner war er ohnehin noch nie gewesen.
„Ich kann schlecht essen, wenn ich so aufgeregt bin“, gestand er.
Sie hörte auf zu essen und strahlte ihn an.
„Ich bin auch aufgeregt!“ sagte sie überschwänglich. „Aber ich kann immer dann wieder essen, wenn ich glücklich bin!“
Das war klar und eindeutig.
„Bist du auch dann noch glücklich, wenn ich dir sage, dass ich wahnsinnig verliebt in dich bin?“
„Dann bin ich noch glücklicher! Denn ich kann sehen, dass es stimmt!“
Sie zeigte ein eigentümliches, reizendes Lächeln. Verklärt wirkte es, und doch gegenwärtig, so als blicke sie nicht nur auf Berthold, sondern gleichzeitig in eine andere Welt.
Wieder beugten sie sich zueinander und küssten sie sich.
Berthold spürte dermaßen viel euphorische Unruhe in sich, dass er den romantischen Augenblick kaum genießen konnte. Am liebsten hätte er sich auf Leni gestürzt und sie wild an sich gedrückt, um sie dann mit Küssen zu bedecken.
Als
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