Die schlafende Stadt
so.“
„Scheint so“, echote Markheim grinsend.
Er kam Harald wieder ganz nahe.
„Jetzt hören Sie mir noch mal zu, denn ich sage das jetzt nur noch einmal, Sie dämlicher Rotzjunge. Ich tue das hier für Sie, und auch nur wegen Ihres Vaters, der mir ein getreuer Kamerad ist und der keinen Ärger haben will. Ihre Konzerttätigkeit mit diesem Judenbengel ist ab heute vorbei. Wir dulden keine Juden mehr in unseren Konzertsälen, unseren Bühnen, unserem kulturellen Leben. Aus ist’s damit!“
Er machte eine kurze Geste mit seinem Kopf, worauf Markheim sich sofort erhob und ihm stramm folgte.
„Heil Hitler! Um Ihren Pianisten kümmern wir uns schon.“
Harald hörte draußen vor der Tür Romans Stimme und einige barsch hervorgebrachte Worte. Dann brüllte der Offizier etwas. Schritte entfernten sich.
Was mochten sie getan haben? Harald fühlte sich jetzt elend und erbärmlich. Doch was hätte er tun sollen gegen drei gewaltbereite Kerle?
Sicher war alles weniger schlimm als er dachte.
Harald fand bald einen neuen Begleiter. Er hieß Heinrich Voß, war gut, vielleicht sogar tatsächlich besser als Roman, wie er befriedigt feststellte.
Ein einziges Mal sah er Roman wieder, wenige Wochen nach jenem Kammerkonzert, dem somit einzigen, das sie je miteinander gegeben hatten. Sie begegneten sich auf der Straße, eher zufällig.
Blass sah er aus, und er sprach nicht viel, nur dass seine Familie und er sich mit dem Gedanken trage, Deutschland zu verlassen.
„Das haben wir uns beide wohl etwas anders vorgestellt“, sagte Harald.
Roman nickte. „Ja, das haben wir.“
Er schaute enttäuscht. „Vielleicht sollte ich jetzt gehen. Damit du keinen Ärger bekommst.“
Er winkte im Fortgehen noch kurz. Harald sollte ihn nie wiedersehen.
Harald fühlte die Anklage in Romans Worten und schämte sich. Doch Roman konnte nicht wissen, wo seine Feigheit herrührte.
Wolfgang Nachtmann war eine eindrucksvolle Persönlichkeit, ein Bild von einem Mann: groß, breit, elegant, die inzwischen graumelierten Haare von einem messerscharfen Scheitel geteilt. Jede Falte seines anthrazitfarbenen Anzugs schien an der richtigen Stelle, das strahlende Weiß seines gestärkten Hemdes wurde nur von den blitzenden, ja stechenden Augen übertroffen, die jeden seiner Untergebenen unerbittlich durchbohrten. Stählern und hart wirkte er mit seiner geraden Haltung, seinem ernsten unbeweglichem Gesicht, seiner tiefen, leisen, gefährlichen Stimme, die stets nur das Notwendigste sagte, dies aber dermaßen verdichtet und ohne Duldung des geringsten Widerspruchs, wie es der schärfste Befehl nicht hätte ausdrücken können. Er war nicht nur der Chef der von ihm selbst gegründeten und so groß und bedeutend gewordenen Spinnerei, nein, er war viel mehr: eine Institution, ein Gott. Das Schicksal von zweitausend Mitarbeitern hing von ihm ab, von seinem Wort, seiner Gunst, seinem Geld. Ohne zu zögern ließ er die fallen, die seinen Ansprüchen von Disziplin und Qualität nicht genügten. Desgleichen konnte jedermann sicher sein, bei guter und zuverlässiger Leistung fest und sicher in Arbeit und Brot zu stehen. Seine Regeln waren klar, und auch er hielt sich daran.
Eine dieser Regeln lautete: Niemand und Nichts dürfe ihn behindern im Ablauf seiner Taten, im Verfolgen seiner Ziele. Die Anderen hatten sich nach ihm zu richten, nicht etwa umgekehrt. Das einzige, was er über sich akzeptierte, waren Gott und Kirche. Sein protestantischer Glaube hatte ihm über schwere Zeiten hinweggeholfen, als niemand da war, an den er sich hätte wenden können, in den Zeiten seiner elternlosen Kindheit, den Zeiten des Krieges, an dem er als junger Soldat teilgenommen hatte, den Zeiten der Gründung seiner Existenz. Niemals mehr würde ihm jemand etwas wegnehmen, wäre er in der Situation, sich auf andere verlassen zu müssen, und jeder, der ihm Steine in den Weg legte, war sein Feind. Und es war sehr schlecht, ein Feind Wolfgang Nachtmanns zu sein. Er pflegte seine Feinde zu vernichten. Systematisch hatte er sie ruiniert, die Konkurrenten, die es gewagt hatten, ihm seine Marktanteile streitig zu machen. Er verfügte über ein dichtes Netzwerk von ihm sehr verpflichteten Menschen in Kirche, Industrie und Politik aufgrund seines guten und hochgeschätzten Namens, des Einzigen, was ihm sein Vater hinterlassen hatte, und er verstand diese Trümpfe sehr geschickt und rigoros auszuspielen.
Bei den Braunhemden mit ihren Hakenkreuzen war er sich noch unschlüssig. Er
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