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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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wichtigere Dinge investieren.“
    Geringschätzig blickte er auf die Überreste jenes nutzlosen, kranken Dinges. Dann wandte er sich um und ging.
    Harald stand noch eine Weile stumm da. Dann kniete er nieder und streckte die Hände aus. Zärtlich strich er über die Überreste seines Cellos, aus dem jegliches Leben entwichen war.
    Sorgfältig packte er es in den Kasten. Er sammelte jeden Splitter, jedes Stückchen des abgeplatzten Lackes auf.
    Keine Träne war in seinem Gesicht.

    Harald war seitdem die Disziplin selbst. Seine ohnehin guten Noten erreichten Spitzenwerte. Er machte ein glänzendes Abitur.
    Sein ernstes Wesen und seine tiefe Stimme erinnerten viele an seinen Vater. Er quittierte die vielen Bemerkungen dieser Art mit einem dezenten Lächeln. Er hasste es, als ein verlängertes Stück Wolfgang Nachtmanns angesehen zu werden. Er hätte etwas ganz Eigenes entwickeln können, etwas gänzlich anderes als sein übermächtiger Vater, doch er hatte nicht die Macht, sich dagegen zu wenden.
    Ein grimmiger Stolz erfüllte ihn. Ja, es war ein Privileg, der einzige Sohn des großen Fabrikanten zu sein, des deutschnationalen Protestanten, des Herrn über so viele Schicksale und Existenzen. Nutzen sollte er dies, anstatt sich dagegen zu wenden.
    Das Bild seiner geliebten Mutter, die so früh gegangen war, verblasste. Die wenigen zarten Erinnerungen, wie die, als er auf ihrem Schoß saß, während sie Klavier spielte, verflachten. Sie wurden wie die alten Photos, die er noch von ihr besaß, blass, schwarzweiß, eingeklebt in einem Album, das in einer Schublade verwahrt wurde. Die Eindrücke ihrer liebevollen Hände, die ihm als kleinem Jungen über den Kopf gestrichen hatten, verschwanden. Jetzt waren sie unwirklich, wie unwahr, als wären sie ein erfundenes Bild, das nicht zu ihm gehörte.
    Wirklichkeit waren vielmehr die vielen Menschen, die sich jetzt um ihn bemühten. Es galt als edel, zu seinem Freundeskreis zu gehören. Man suchte seine Nähe.
    Seine Nähe suchten auch jene Gesinnungsgenossen, die sein Vater Verbrecher und Idioten genannt hatte. Sie waren unter den Kommilitonen, die seine Wegbegleiter waren in dem Jurastudium, das er nun begonnen hatte. Die Professoren Kühnemann und Frey trugen ebenfalls stolz und offen jenes Abzeichen, das sie als Parteimitglieder erkennbar machte, und bedachten ihn mit anerkennender Aufmerksamkeit.

    Wolfgang Nachtmann, der Herr über die vielen Schicksale, der demütige Diener seines Glaubens, der unermüdliche Kämpfer für sein Vaterland, sah die Erfolge seines Sohnes mit verhaltenem Wohlwollen. Anmerken ließ er sich freilich nichts. Sein Gesicht blieb unbewegt wie immer. Er registrierte die exzellenten Noten Haralds, ohne darauf zu reagieren. Harald war sein Blut, und er würde zur geistigen Elite des Landes gehören. Es war ihm also doch noch gelungen, die Weiche zu stellen, an diesem einen Abend, mit Hilfe zweier kräftiger Fußtritte. Es war nur eine geringe Regung, die er fühlte, aber viel für einen Kämpfer aus Stein und Erz.
    Er gestand sich selbst zu, zufrieden zu sein. Bequem ließ er sich im Herrenzimmer nieder, wo Greta, die Haushälterin, ein Feuer im Kamin gemacht hatte. Ein guter Jurist würde er werden, sein Sohn. Auch dies keine schlechte Voraussetzung für eine Karriere, vielleicht in der Politik. Er entzündete eine Zigarre und sog das beginnende Wochenende in sich ein. Noch immer duldete er keine Schwäche an sich, folgte allen Prinzipien, doch fühlte er, wie ihm mit seinen nun fünfzig Jahren nicht alles mehr ganz so leicht fiel wie früher.
    Das gedämpfte Zuschlagen der Haustür gemahnte ihn, dass Harald gekommen war. Er hörte seine Schritte auf der Treppe. Feste, entschlossene Schritte. So sollten die Schritte eines Mannes sein.
    Die Tür öffnete sich.
    Ja, da stand Harald.
    Er trug eine schwarze Uniform. Die Uniform der Schutzstaffel.
    Nachtmann stand der Mund offen. Ein leiser Ärger vertrieb die sich anbahnende Wohligkeit. Was sollte das?
    Harald genoss den Anblick seines erstaunten Vaters.
    „Ich wünsche dir einen schönen Abend, Vater“, sagte er. „Du siehst, ich bin jetzt nicht nur Parteimitglied, sondern ich gehöre zur Elite.“
    „Was in aller Welt ...“, begann sein Vater.
    „Ich werde jetzt auf meine Art dafür sorgen, dass Deutschland wieder groß wird“, sagte Harald.
    „Wirst du weiter studieren?“
    „Ist das alles, was dich interessiert? Sei besser stolz auf mich! Es wird dem Ansehen deiner Firma nützen, einen Sohn

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