Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
Vom Netzwerk:
sich nun. Die verwinkelten, teils filigranen, teils wuchtigen Bauten, die Häuser, Paläste, Kirchen und Brücken wirkten mehr denn je verfallen und tot. Alles wirkte wie eine riesenhafte, morbide Stadt, die seit Äonen von Jahren verlassen war, und von der die Natur wieder Besitz ergriffen hatte. Viele Mauern waren mit Flechten bewachsen, Schlingpflanzen überwucherten die ehrwürdigen Säulen und Dächer, und in den Ritzen der Steine wuchs feuchtes Moos. Das Schloss wirkte erhaben und übermächtig wie immer, und doch wirkte es wie aus einer fernen Zeit, einer Erinnerung von etwas, das längst vergangen war. Noch immer umkreisten schwarze Vögel den hohen Turm.
    Ein kleiner bläulich schimmernder, schwarzer Käfer krabbelte über die rauen Pflastersteine und verschwand in einer Spalte. Darius löste sich aus seiner andächtigen Starre. Unsicher tat er einige Schritte, so unwirklich war es, die Stadt der ewigen Dunkelheit, die er sonst nur vom Mond beschienen kannte, so schwarz und schimmernd, verwunschen, im Tageslicht zu sehen.
    Er ging die Straße entlang. Hinter dem nächsten Haus nahm er eine Stiege bergauf und erreichte einen kleinen Platz mit einem Brunnen, in dessen Becken klares Wasser floss. Nur wenige Schritte weiter erreichte er eine kleine Aussichtsplattform.
    Da erblickte er endlich sein Kloster mit dem Observatorium. Jetzt wirkte es geduckt, wie ein Tier, das sich einst an die schwarzen Basaltfelsen geklammert hatte, und das dort gestorben und dann versteinert war. Doch so unheimlich, wie ihm die Stadt jetzt war, so anheimelnd wirkte seine Arbeitsstätte jetzt auf ihn, wie ein alter Freund, den man nach vielen Jahren wiedersieht, etwas verändert, älter geworden, und dennoch urvertraut.
    Darius erfasste eine ungeheure Neugierde. Was mochte bei Tageslicht wohl zu entdecken sein? Er hatte sein eigenes Heim noch nie tagsüber gesehen. Warum nur? In jener Höhle damals, und auch tief in der Erde, am unterirdischen See, war er doch auch wach gewesen?
    Zügig schritt er voran. Je höher er kam, desto besser wurde seine Aussicht. Da war der Hafen. Keine Boote waren zu sehen. Die Anlegestellen lagen verwaist und unberührt da. Das Wasser war klar, und an den seichten Stellen konnte man sogar von so weit oben die Treppenstufen erkennen, die ins Wasser führten, der erste feste, wenn auch feuchte Grund, den die Neuankömmlinge betraten an diesen Ufern.
    Darius ging weiter. Er passierte den Ygâr-Dá, und erreichte bald die Treppenstufen des Klosters. Jetzt war er aufgeregt.
    Ob Beda dort war?
    Natürlich, wo sollte er sonst sein?
    Schwer atmend betrat er den Klosterhof.
    Jetzt bei Licht erschien er kleiner als in seiner Erinnerung. Entschlossen setzte Darius Schritt vor Schritt, und stieß die Tür des Observatoriums auf. Fast war er überrascht, dass sie unverschlossen war.
    Das Dunkel der dicken alten Mauern war jetzt plötzlich so undurchdringlich, dass er eine Weile ausharren musste, um die ersten Konturen zu erkennen. Dann stieg er die vertraute Treppe hinauf. Er gelangte in den Vorraum, durchquerte ihn kurz entschlossen und betrat das Zentrum.
    Dort war das Teleskop, so wie immer. Verstaubt wirkte es jetzt, so, als sei es jahrzehntelang nicht in Betrieb gewesen. Spinnweben waren überall, und die Manuskripte auf den Arbeitstisch waren blind von einer weißlichen Schicht von Schimmel.
    Verwirrt sah er sich um. Noch vor wenigen Tagen war er selbst doch noch hier gewesen. Wie konnte dies sein?
    Wo war Beda?
    Unruhig begab er sich zur Schlafkammer. Die kleine Tür öffnete sich knarrend. Ja, da war das Bett, das seit er denken konnte seine Schlafstatt gewesen war. Es war unberührt, und so vorbereitet, als erwarte es ihn. Doch auch das Laken erschien staubig und uralt.
    Bedas Kammer lag nur eine Seitentür weiter. Darius öffnete vorsichtig seine Tür und blickte hinein. Er war jetzt voller Furcht, was er dort erblicken würde.
    Ja, da war Bedas Bett. Jemand lag darin. Darius erkannte im schwachen Zwielicht die Konturen seines Freundes. Ein eigenartiger Geruch hing im Zimmer, süßlich und moderig.
    Erleichtert trat er auf das Bett zu. „Beda!“
    Beda rührte sich nicht.
    Darius ergriff die schlafende Gestalt bei der Schulter.
    „Beda! Hier ist Darius!“
    Darius näherte sein Gesicht. Voller Entsetzen prallte er zurück.
    Ja, es war Beda. Doch wie hatte er sich verändert! Er lag da, die Wangen eingefallen, die Haut fahl und fleckig und von lederiger Konsistenz. Seine Augen waren geschlossen, doch unter

Weitere Kostenlose Bücher