Die schlafende Stadt
den geschwärzten Lidern eingesunken, ebenso seine Nase, die in der Mitte des Nasenrückens eingeknickt war und ihm ein fremdes, abstoßendes Äußeres verlieh. Der faltig gekräuselte Mund war leicht geöffnet und gab den Blick frei auf lange, gelblichgrau verfärbte Zähne, von denen einige bereits ausgefallen waren. Über der einen Augenbraue hatte sich eine großflächige, bräunliche Blase gebildet, die bereits wieder halb eingesunken war.
Darius war derart von Grauen gepackt, dass sein Denken vollständig aussetzte. Das widerwärtige, entstellte Wesen, das dort lag, war unzweifelhaft Beda. Die gleichen langen Haare, die sich hier auf dem Kopfkissen ausgebreitet hatten, der Bart, die feingliedrigen Finger, deren Haut jetzt aussah wie zerknittertes Papier. Was war nur mit ihm geschehen? Vor seinen Augen begann es zu flimmern. Das Zimmer drehte sich plötzlich und er schwankte. Mit Mühe konnte er sich an einem der Bettpfosten festhalten.
Panik erfasste ihn. Er fühlte sich jetzt allein, unendlich verlassen. Sein Gefährte, sein Freund, der ihm so viel Halt und Sicherheit gegeben hatte all die Zeit ... Er spürte jetzt Gram aufsteigen, der sich in einem dicken Kloß in seinem Hals staute. Zitternd wankte er aus Bedas Kammer.
Jetzt wollte er fort. Nur fort von hier! Eine irre Panik entwarf ein Bild, dass er all seine neuen Freunde, Grim, Uriel, Baruch, Eleonora und die anderen als verweste Leichen anträfe.
Etwas Weiches ergriff seine Waden und tastete sich empor.
Darius schrie auf und tat einen Satz nach vorne.
Entsetzt blickte er hinter sich.
Es war Melmoth. Sein kleines Gesicht zeigte tatsächlich so etwas wie Erstaunen. Darius stöhnte erleichtert. Er nahm das kleine pelzige Tier und drückte es an sich. Jetzt schossen ihm Tränen in die Augen.
Als er den Schlafbereich verlassen wollte, verließ Melmoth laut schnatternd seine Schulter und sprang erst auf Darius’ Bett, dann von dessen Fußende auf den Boden, um dort aufgeregt auf- und nieder zu hüpfen. Darius erkannte eine kreisförmige Platte, auf der der kleine Affe saß.
Natürlich! Dies musste der geheime Zugang sein, durch den Harlan gekommen war! Und andere vermutlich auch. Er schüttelte ungläubig den Kopf, dass sie ihm nie zuvor aufgefallen war.
Darius erinnerte sich an Uriels Karte. Er trug sie seitdem immer bei sich, er fühlte den durch das gefaltete Papier steifen Bereich an seiner Brusttasche. Er zog die Karte hervor, entfaltete sie und legte sie in das schwache indirekte Licht der dreieckigen Luke über seinem Bett.
Darius stellte fest, dass es sich um einen direkten Verbindungsweg zum Schloss handeln musste, der aber mehrfach abzweigte und Querverbindungen hatte zu einzelnen zentralen Gebäuden, wie dem Hafen, der Bibliothek und sogar dem Ygâr-Dá.
Trotz seiner angstvollen Stimmung überlegte er sich nun, einen Teil des Höhlensystems zu erforschen. Wenn er direkt zum Ygâr-Dá gelangen konnte, könnte dies seinen Weg sogar um Einiges abkürzen. Andererseits liefe er womöglich Gefahr, dort unten den schwarzgewandeten Wachen zu begegnen, die im Schutz der Dunkelheit dort ihrem widerwärtigen Tun nachgingen.
Er entschloss sich, kein Risiko einzugehen. Sein großer Vorteil war es schließlich, bei Tageslicht an der Oberfläche sein zu können. Er würde die unterirdischen Verbindungswege später erkunden.
Er bedeutete Melmoth, ihm zu folgen, und stieg die Wendeltreppe des Südturms hinauf.
Dort oben angelangt betrat er seinen Rabenhorst.
Wie schön diese Sonne doch war! Darius blinzelte gegen dieses helle Licht, das ihm so unbekannt war. Warm war es, herrlich warm, und mit der Luft des Meeres wirkte es als rausche das Leben in großen Wogen in ihn herein. Jetzt war es ihm, als habe er es lange Zeit vermisst, ohne zu wissen, dass es ausgerechnet das war, was ihm so sehr fehlte. Er breitete die Arme aus, als wolle er es umarmen.
Wehmütig blickte er aufs Meer. Dort, vor einer Zeit, die ihm jetzt lange entfernt vorkam, hatte er sie gesehen, sie, nach der er nun seitdem suchte. Verzückt dachte er an diese strahlenden, grünen Augen, die so eine Flut von Ereignissen in Gang gesetzt hatten. Er hatte sie nicht gefunden, noch immer nicht, obwohl er ihr ein einziges Mal im Traum begegnet war.
Aber er hatte jemand anderen gefunden. Sehnsüchtig ging er die Ereignisse durch, als er das erste Mal eine Reise angetreten hatte in jene andere Welt, zu jener jungen, wundervollen Frau, in deren Armen er gelegen, deren Duft er geatmet, deren
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