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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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allem zum Trotz sein Leben ganz der Schönheit hatte widmen wollen! Der wundervollen Musik, die ihm seine liebevolle Mutter schon immer hatte vermitteln wollen.
    Schluchzend fuhr er sich durch das schweißnasse Haar. Nie zuvor hatte er solche Sehnsucht verspürt, von ihr gehalten zu werden.
    Tagsüber verschwanden die Gespenster. Sein rationaler Verstand stellte wieder die Ordnung her, die er brauchte. Sobald er an die Notwendigkeit aller Maßnahmen glaubte, ging es ihm besser. Aber er merkte, dass dies nur ein Trick seines Geistes war. Er wusste, dass in den Konzentrationslagern alles möglich war, seitdem er gesehen hatte, mit welch unverhohlener Lust die SS Menschen quälte und umbrachte. Und er, ausgerechnet er war ein Teil dieser Maschinerie.
    Das Schlimme daran war: Er hatte es von Anfang an gewusst. Stets hatte er verächtlich auf die geblickt, die sich darin gefielen, des Teufels Werkzeug zu sein. Er hatte sich besser, größer reiner gefühlt, und hatte alles geschehen lassen, um Macht zu bekommen, Macht, um sich über jene erheben zu können, die ihn und alle anderen so sehr quälten, als heiligte der Zweck die Mittel. Doch jetzt merkte er, dass der Strom der Ereignisse zu gewaltig war. Nichts von all dem würde er aufhalten können. Er könnte einige von den Mördern degradieren, inhaftieren, ja sogar hinrichten lassen. Er könnte die Gefängnisse und Lager überwachen lassen. Er könnte andere Bedingungen diktieren. Des Teufels Macht ließ sich nicht nutzen. Man konnte ihr nur erliegen.
    Jetzt wurde ihm in aller Grausamkeit der Wahrheit klar, dass er sich selbst völlig überschätzt hatte. Letztendlich hatte er immer nur um die Gunst seines Vaters gekämpft, der einzige, der ihm geblieben war seit dem Tod seiner Mutter. Und es war ihm nicht gelungen, sie zu bekommen, diese Anerkennung. Erst an der obersten Spitze würde sein Vater ihn akzeptieren. Doch dies war unmöglich. In einem anderen Staatssystem ja, aber in diesem? Vater hatte recht: Er war zu weich. Er hätte sein Cello nehmen sollen und fortgehen, vielleicht zusammen mit Roman, der sicherlich längst in Amerika war. Feiger hätte er sein müssen, sich aus dem Staub machen müssen.

    Harald besuchte seinen Vater, das erste Mal seit drei Jahren. Wolfgang Nachtmann hatte sich nicht verändert. Seine Spinnerei lief nach wie vor auf Hochtouren. Besonders jetzt, in den Zeiten des Krieges, war großer Bedarf an Stoff und Tuch, und Nachtmanns Qualitätsgarn war begehrt wie nie. Noch immer war er nicht in der Partei, doch er stand unter dem besonderen Schutz seines Sohnes, des bekannten SS-Offiziers Harald Nachtmann. Abschätzend sah er ihn an. Ja, er war ein Mann geworden, sein Sohn. Jede Art von Weichheit war von seinem Anlitz verschwunden. Wodurch dies auch immer gekommen war, so war es gut. Aus Haralds Augen blickte endlich die gnadenlose Härte, die ihn selbst so weit nach vorne gebracht hatte.
    „Ich sehe, dass du deinen Weg gehst“, sagte er.
    „So ist es“, sagte Harald.
    Harald war ausnahmsweise in Zivil. Er trug einen dunkelgrauen Anzug mit kurzer Jacke und polierten Messingknöpfen, weißem Hemd und Krawatte. Guter Stoff, wie Wolfgang Nachtmann auffiel.
    „Du dachtest wahrscheinlich, dass ich grausam bin. Aber ich wollte immer nur, dass du dich dem Leben stellst, um bestehen zu können.“
    Harald sah ihn an. Zwei stechende Augenpaare begegneten sich.
    „Ich halte dich nicht für grausam“, sagte er dann, „ich halte dich für tot. Deine Leichenhaftigkeit hat mein ganzes Leben vergiftet, weil nichts an Wärme von dir kam. Du wolltest mich immer nur hart machen, so hart wie Stein. Aber ich bin kein Stein. In mir fließt Blut, lebendiges Blut. Ich habe ein Herz, das wirklich schlägt. Der Weg, den ich dadurch beschritten habe, ist mein Verderben. Ich war auf dem Weg zum Himmel, doch du hast mich zur Hölle geschickt.“
    „Was redest du da?“
    „Mein großes Problem ist, dass ich noch nicht tot bin. Noch nicht so tot wie du. Deshalb spüre ich sie noch, die Flammen der Hölle. Sie verzehren mich, sie quälen mich, aber sie bringen mich nicht um. Sie sind gnadenlos.“
    Sein Vater blickte ihn so kalt und verächtlich an, wie schon immer.
    „Du bist immer noch zu weich.“
    „Ja“, sagte Harald. „Das bin ich.“
    Sein Blick ging jetzt in die Ferne. Im Abendrot sah er die fernen Hügel, auf denen noch das goldene Licht der untergegangenen Sonne zu sehen war. Der Himmel erstrahlte noch im rosa eingefärbten Blau des Abendlichtes, und

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