Die schlafende Stadt
Körper er gespürt hatte. Die er geliebt hatte, mit Leib und Seele.
Sein Blick fiel auf das Teleskop. Merkwürdigerweise sah es wie neu aus, in voller Funktion, ohne Altersspuren. Noch nicht einmal Staub war auf der Linse zu sehen. Überhaupt machte dieser Teil des Klosters den Eindruck, als sei der Verfall hier wesentlich weniger vorangeschritten als in der übrigen Stadt. Die Zinnen der Brüstung waren kaum merklich verwittert, und der Ornamentenfries um den kleinen Torbogen war wie frisch gemeißelt.
Darius ging wieder die Treppe hinunter zum Ausgang. Er setzte sich auf die Fensterbank eines jener gotischen Fenster des Kreuzganges, an die Stelle, an der er schon früher oft gesessen hatte. Melmoth krabbelte auf seinen Schoß.
Es schien Darius jetzt noch unwirklicher, wo und zu welcher Zeit er nun hier war. Er hatte unzählige Male von hier aus auf die Stadt geblickt, doch jetzt war ihm der Anblick fremd, unheimlich und vertraut in einem. So dunkel und bedrückend die Stadt zur Nachtzeit auch gewesen sein mochte, es waren wenigstens Menschen dort, die sich bewegten, die sprachen, die ihrer Arbeit nachgingen. Die Leere, die er jetzt vorfand, wirkte verstörend.
Ob alle Bewohner der Stadt so leichenhaft in ihren Häusern lagen? Was mochte mit Harlan sein?
Er war wieder etwas ruhiger geworden, und er stellte fest, dass die Sonne noch nicht die Mittagshitze erreicht hatte. Er hatte also noch Zeit, die er nutzen konnte. So wie er begann, seine Angst zu überwinden, meldete sich wieder seine Neugierde.
Er lehnte sich aus dem Fenster und sah zum Schloss hinauf.
Es war ein ähnliches, erhabenes Gefühl wie schon früher, die Stufen zum Schloss heraufzugehen. Diesmal aber verspürte Darius weniger die übliche angstvolle Stimmung, sondern er fühlte sich machtvoll und sicher. Er, der Einzige, der dem Licht trotzen konnte, war somit gewappnet, allen bösartigen Kreaturen der Finsternis überlegen.
Wieder wandte er sich zunächst nach links, in Richtung der Kaserne, und erreichte schnell den bekannten Durchgang zum Hof. Wie schon vor einigen Nächten war der Sand dort unberührt, wie frisch gekehrt, oder vielmehr, als habe der Wind von Generationen alle Spuren verweht.
Wie er befürchtet hatte, war die Tür zu Harlans großem Saal wiederum verschlossen.
Darius war diesmal von grimmiger Entschlossenheit. Auch fühlte er eine Körperkraft, die ihm neu war – oder an die er sich erst jetzt wieder erinnerte. Die Holztür sah heute so morsch und verwittert aus, dass er beschloss, sich den Weg einfach frei zu machen.
Kräftig trat er gegen die Tür. Sie ächzte etwas, hielt aber stand. Ein zweiter, noch kräftigerer Tritt brachte das Holz zum Splittern. Darius’ Bein verschwand vollständig in dem Loch, das er hineingetreten hatte.
Nach einigen weiteren Stößen und Tritten hatte er die Tür soweit zerstört, dass er eintreten konnte. Jetzt zögerte er, denn der Anblick der Dunkelheit, die ihn empfing, gemahnte ihn an Gefahr.
Darius tastete sich durch das Treppenhaus nach oben. Die große Tür zum Saal ließ sich quietschend öffnen.
Der Saal wirkte jetzt viel dunkler als bei Nacht. Die festliche Beleuchtung bei seinem ersten Empfang war jetzt aus, der Kronleuchter schien sogar keine einzige Kerze mehr zu beherbergen. Die Fensterscheiben waren blind und ließen nur gedämpftes Licht herein.
Harlans Schreibtisch wirkte verstaubt. Zwischen dem Tintenfass und der Schreibtischlampe hatten Spinnen ein dichtes weißes Gewebe gesponnen. Der große Gobelin wirkte stumpf und zeigte Spuren von Zersetzung.
Darius fand die seitliche Tür unverschlossen und trat hindurch.
Da war es also, Harlans Domizil mit den drei Aussichtsfenstern.
Darius stellte fest, dass die Sessel keinen Staub aufwiesen. Der Bezug wirkte so wie bei seinem ersten Besuch. Alles wirkte aufgeräumt und gepflegt.
Ob dies etwas mit Harlans Wachheit zu tun hatte? Jetzt schoss ihm durch den Kopf, dass er ausgerechnet jenen einzigen Ort, der ganz allein ihm gehörte, seinen Rabenhorst, sauber und intakt vorgefunden hatte.
Wieder fühlte er diesen seltsamen Gegensatz von Furcht und Zuneigung. Auf irgendeine Weise hatte Harlan recht. Sie waren beide ähnlich. Und doch völlig gegensätzlich. Wie nur konnte jemand, zu dem er eine solch eigenartige Geistesverwandtschaft spürte, Heerscharen von schauderhaften gesichtslosen Wachen befehligen, sich über harmlose Bürger erheben, sie unter Vorbehalt des Sinnvollen quälen und renaturieren? Was brachte ihn dazu,
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