Die schlafende Stadt

an schmalen Treppenaufgängen vorbeikam, die sicherlich zu Ausgängen führten, vermutlich in Keller von Häusern oder in unscheinbare Nebeneingänge der Straßen und Hohlwege.
    Eine kreisrunde Öffnung in der Mauer ließ endlich den Blick frei auf einen brunnenartigen Schacht, in dem sich eine ausgetretene Wendeltreppe befand. Im geringen Licht erkannte Darius, dass einige Stufen fehlten. Das wachsende Befürchtung, hier unter der Erde womöglich doch noch Harlans Wachen in die Hände zu fallen, brachte Darius aber zu der schnellen Entscheidung, hier nach oben zu gehen.
    Nach mehreren Windungen kam er an eine schmale Tür, an die sich eine sehr enge Treppe anschloss, die eine leichte Krümmung zu einer Seite hinverfolgte, so als befände er sich inmitten eines runden Gebäudes, ähnlich der Bibliothek. Nur, dass die Mauern, zwischen denen er nun aufstieg, weitaus gröber und archaischer wirkten.
    Die Stufen schienen kein Ende zu nehmen. Darius begannen die Beine zu schmerzen. Er begann zu keuchen. Endlich kam er an eine kleine Seitentür, durch die er ins Freie trat.
    Zunächst war er geblendet durch das helle Sonnenlicht von draußen. Dennoch stand er im Schatten, denn er befand sich auf einer Art überdachter Holzterrasse, vielmehr auf einer hölzernen Galerie, die aus großer Höhe auf einen riesenhaften, runden Innenhof zeigte.
    Die Galerie lief auf der Innenseite der zerklüfteten, kreisrunden Turmmauer entlang, und schraubte sich vom Boden an spiralförmig an der Innenmauer anliegend in die Höhe, lediglich unterbrochen von klobigen Steinpfeilern, und damit eine große Anzahl von Stockwerken bildete, die sich dicht übereinander türmten. Er selbst mochte sich auf dem zwölften Stockwerk von unten befinden, denn der Innenhof war bedrohlich weit in der Tiefe, zumal der Boden sich zum Hof hin abschrägte und es außer einem erhabenen Abschlussbalken kein Außengeländer gab.
    Darius stieß einen Laut des Abscheus aus. Entsetzt sah er sich um.
    Er befand sich mitten im Ygâr-Dá! Und jetzt erkannte er mit Entsetzen, warum dieses Gebäude der „Große Turm des Schlafes“, hieß. Denn hier ruhten die Leiber von Tausenden.
    Sämtliche Galerien waren voller toter Körper. Der ganze Ygâr-Dá war eine einzige, gigantische Grabstätte. Ein wahres Meer von Leichen lag hier aufgebahrt, still und grauenvoll. Einige Raben flogen im Innenhof umher und ließen sich auf den Toten nieder. Ein ekelerregender, süßlicher Gestank von Fäulnis hing in der Luft und mischte sich mit dem Summen der zahlreichen Fliegen, die in der flirrenden Hitze umherschwirrten.
    Direkt vor seinen Füßen lag der erste Leichnam, mit dem Kopf zur Mauer, die Füße zeigten zur Mitte. Er war mit wenigen, vermoderten Fetzen bekleidet, und sein Körper war fast vollständig verwest. Lediglich einige verfilzte Haare hafteten noch an dem Schädel. Genau in diesem Augenblick kroch ein glänzender schwarzer Tausendfüßler aus dem einen Auge und verschwand im Kragenbereich.
    Daneben ihm lag ein weiterer Körper. Er war noch viel mehr der Zersetzung anheim gefallen, nur noch wenige Rippen waren vorhanden, und die Kinnlade fehlte. Das Gerippe war zudem rotbraun verfärbt, wogegen bei dem anderen noch die elfenbeinerne Farbe überwog.
    Die nächste Leiche daneben trug eines jener unverkennbaren Visiere, doch die schwarze Kutte wehte in Fetzen umher und gab den Blick frei auf grünlich angelaufene, teilweise gebrochene Knochen. Das Visier der nächsten Leiche war geborsten und Darius erkannte schaudernd den Schädel darunter.
    Darius stellte fest, dass es sich hier ausschließlich um die Überreste von den Gestalten in den schwarzen Kutten handelte. Einige Kutten waren noch gut erhalten, auch die meisten Helme waren noch intakt. Einige Soldaten umklammerten noch im Tode ihren dornenbesetzten Holzknüppel, anderen war er aus den erstarrten Händen geglitten und waren zur Brüstung gerollt oder darüber hinaus, denn unten im runden Hof lagen mehrere davon im Staub.
    Darius stieg fahrig über die Toten hinweg. Die Mittagssonne schien direkt von oben in den Turm, so dass alle im Schatten der Dächer lagen. Er erkannte, dass die Leichnahme unterschiedlich vermodert waren; einige waren mumifiziert, so dass ihre ledrige Haut und sogar einzelne Gesichtszüge noch zu erkennen waren; andere schienen fast vollständig zu Staub zerfallen. An einigen Stellen lagen sogar nur noch ein paar Zähne.
    Einmal strauchelte er und stieß einem Wächter mit dem Fuß gegen den Kopf.