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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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verabreichte sie im Schlaf. Manchmal entströmte es auch den Kugeln, die die Post transportierten.“
    Dankwart verzog angewidert das Gesicht.
    „Dies wird der Grund gewesen sein, warum du jene Anfälle von Wahnsinn hattest“, sprach Beda weiter. „Sie hatten die Dosis verändert, um dich zu ängstigen.
    Aber auch darum kehrte wieder Klarheit ein in deinen Geist, als du in einem Unterschlupf weiltest. Sie wussten ja nicht, wo du warst. Aber natürlich waren sie dadurch wahrscheinlich alarmiert.“
    „Und die vielen Male, als du deiner Wege gingest? Wo ich ohne dich in den Tempel gehen musste?“
    „Ich wanderte. Einige Male nur ein paar Wege hier in der Stadt, mal stieg ich auf den einen oder anderen Felsen. Oft war ich beim Schwarzen Tor.“
    „Beim Schwarzen Tor! Dem Ort, den alle so sehr fürchten!“
    Beda lachte.
    „Dieser Ort ist ganz und gar nicht zum Fürchten. Ich werde ihn dir zeigen.“

    Das Kenotaph hatte ebenfalls den rötlichen Schimmer der Abendsonne angenommen. Der ganze Saal, die ganze Kuppel wirkte, als sei alles aus schwerem Gold. Jetzt wirkte der Ort feierlich, so als stünde ein großes Fest bevor.
    Anstatt die Treppen zum Zentrum hinunterzusteigen, schlug Beda einen Weg darum herum, entlang der gigantischen Säulen ein. Erst jetzt erkannte Dankwart, dass sich hinter dem Kenotaph ein prächtiges Portal befand. Beda steuerte direkt darauf zu.
    „Früher war ich gezwungen, einen kleinen, vergessenen Seiteneingang zu nehmen“, erklärte er, und öffnete die kolossalen, bronzenen Türflügel, „aber heute dürfen wir ruhig den offiziellen Weg nehmen.“
    Der Durchgang war wie ein hoher, finsterer Tunnel, der so wirkte, als wäre er aus dichtstehenden Bäumen gebildet, die ihre bizarren Äste ineinander verrankt hätten. Es war aber tatsächlich eine kunstvolle Steinmetzarbeit, die die Natur täuschend ähnlich nachahmte. Selbst das Blattwerk in der Höhe erschien wie gewachsen.
    Am anderen Ende wichen die steinernen Bäume zurück, und sie betraten einen zweiten, ebenso gewaltigen kreisrunden Saal. Doch dieser war von sanfter Dunkelheit, nur von zahlreichen kleinen Laternen schwach beleuchtet, in denen jeweils ein flackerndes Licht brannte. Sie standen in unzähligen Nischen in der Außenmauer bis in große Höhen hinauf, und wirkten wie ein wahres Meer von Sternen in diesem unendlich wirkenden Zelt aus Stein. Eine angenehme Wärme erfüllte die Atmosphäre, wohlig und friedlich.
    Dankwart sah nach oben. Die Deckenwölbung ging nahtlos in einen kolossalen, konischen Kamin über, eine gigantische Ausgabe der Räume innerhalb der geheimen Bruderschaft, von wo aus er das erste Mal gereist war. In unendlicher Höhe sah er durch eine kreisrunde Öffnung den rosavioletten Abendhimmel.
    „Bald wird man die Sterne sehen“, sagte Beda. „Manchmal sieht man sogar den Mond. Dann scheint dieser Ort eine besondere Kraft zu besitzen.“
    Seine Stimme, obwohl er leise gesprochen hatte, hallte mehrfach wider in dem unermesslich riesenhaften Raum.
    „Weißt du, wo wir hier sind?“ sagte er und deutete nach oben, „Dies ist der große, zentrale Turm des Schlosses. Wie du siehst, ist er komplett hohl. Er ist der Eingang nach dem Drüben. Dort oben, über seinem Rand, schweben wir, wenn wir reisen. Dort unten versinken wir, wenn wir hinübergehen.“
    Dankwart erkannte vor lauter Staunen erst jetzt, dass der komplette Boden des Saales, den er gerade noch für reflektierenden Marmor gehalten hatte, ein riesenhafter See war. Seine Oberfläche war spiegelglatt. Das Ufer erschien seicht, doch fiel der Grund wie ein tiefer Krater abrupt ab und führte in eine unermessliche Tiefe.
    „Schau!“ flüsterte Beda.
    Weit entfernt und kaum zu erkennen, auf der anderen Seite, hatte sich ein Mensch entkleidet und watete in den See. Nachdem ihm das Wasser beim ersten Schritt nur bis zu den Knöcheln reichte, stieg es ihm beim nächsten schon bis über die Knie. Eine kurze Entfernung weiter war nur noch sein Kopf zusehen. Dann war er verschwunden.
    „Was geschieht mit ihm?“ fragte Dankwart.
    „Er geht fort von hier. In einiger Zeit wird er geboren werden.“
    „Wird er sich an seine Zeit hier erinnern?“
    „Ich weiß es nicht. Vielleicht. Aber vermutlich wird alles Bisherige in einem tiefen, verborgenen Teil seiner Seele bleiben.“
    „Und das ist also das Schwarze Tor.“
    „Ein Begriff, der aus der Angst vor dem Unbekannten entstanden ist, forciert durch die üblen Seilschaften der Priester und der

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