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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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klarer. Er lag in seinem Bett. Der Mond lugte durch das große, hohe Fenster seitlich der Eingangstür. Er war in seinem Zimmer.
    „Besser?“
    Darius bemühte sich, schwach zu lächeln. Er war erleichtert. Vorsichtig bewegte er seine Finger. Es funktionierte. Dann die ganze Hand. Den Arm. Er packte Beda bei der Schulter.
    „Was ist mit mir ...?“
    Schon während er die Frage stellte, erschien sie ihm unsinnig. Ein Teil in ihm war bereits wacher als sein Bewusstsein.
    „Was ist? Weiß ich nicht. Jedenfalls hast du drei Tage lang geschlafen.“
    Beda prüfte sorgfältig die Aufmerksamkeit seines Patienten.
    „Du hattest Fieber.“ sagte er. „Sehr ungewöhnlich. Und sehr heftig.“

    Darius blieb gefangen in der Krankheit. Immer wieder war es die unerbittliche Schwärze, in der er versank, die sich um ihn und über ihm ausbreitete. Dann war er im Nichts, fühlte sich verloren in der Unendlichkeit, voll stummer Schreie grauenvoller Angst, unfähig, sich zu bewegen. Zwischendurch erkannte er schemenhaft seine Umgebung, erkannte das dreieckige Oberlicht, das so hell leuchtete, dass es sich in seinen Augen anfühlte, als bohre sich ein glühender Nagel hinein. Zwischendurch erkannte er, dass sich Beda an sein Bett setzte und ihm die feuchte Stirn abwischte. Zwischendurch hatte er wirre Erlebnisse von Deformationen an seinem Körper. Seine Zunge schien so dick anzuschwellen, dass sie wie ein riesenhafter Blutegel aus seinem Mund quoll und bis auf die Brust herabhing. Ein anderes Mal entfernten sich seine Füße so weit von ihm, dass sie in der Ferne kaum noch auszumachen waren. Sein ganzer Körper zerfloss und rann in die Furchen seines Bettes. Dann stürzte sein Kopf alleine hinterrücks in eine bodenlose Tiefe, und ließ den Körper, durch den elastischen Hals verbunden, oben zurück. Ein Pelz wuchs in seiner Mundhöhle und wucherte bis in die Augenhöhlen hinein.
    Es mussten viele Nächte vergangen sein, als sich sein Zustand besserte. Die Phasen der fiebrigen Angst wurden kürzer, die unendliche Schwärze wich von ihm.
    Beda flößte ihm regelmäßig frisches Wasser ein und half ihm, die Kleidung zu wechseln. Darius war beschämt, sich in dieser Schwäche zu wissen. „Es tut mir leid ...“, begann er, aber Beda schnitt ihm das Wort ab.
    „Unsinn!“ sagte er streng. „Du sollst dich erholen, und nicht dir Vorwürfe machen. Du bringst mir alle deine Genesungspläne durcheinander!“
    Schließlich sah Darius sich wieder in der Lage, ein paar Schritte umherzugehen. Da wieder Vollmond war, konnte Beda sogar ruhigen Gewissens zur Andacht gehen. Darius kam wieder zurecht. Gerade an diesem Tag begann er, sich wieder normal zu fühlen. Er saß am Fenster, betrachtete die Stadt und versuchte grübelnd, die Ursache seiner Krankheit zu ergründen.

    Dann setzte der Alltag wieder ein. Unspektakulär, ruhig, im gewohnten Rhythmus. Es war alles wie früher, ohne Höhepunkte, ohne Furcht. Darius kam zu dem Schluss, dass seine angstvollen Visionen und Träume alles Hirngespinste seiner Krankheit gewesen waren. Dafür sprach, dass alles sich in einem kurzen Zeitabschnitt ereignet hatte. Vermutlich war er einfach überreizt gewesen, hatte sich in Extreme hineingesteigert und angefangen, Gespenster zu sehen. Den Platz mit dem Brunnen hatte er wahrscheinlich nur falsch in Erinnerung gehabt. Kein steinerner Wächter hatte ihn jemals mit den Blicken verfolgt, und den Kirchturm hatte es schon immer gegeben. Auch die schwarzen Gestalten waren lediglich Dämonen seines Wahns. Jetzt schüttelte er den Kopf über sich selbst. Es wurde ihm leichter ums Herz. Jetzt machte ihm seine Arbeit auch wieder Freude. Arbeit, die Sinn machte und die er natürlich nicht zum wiederholten Male vollführte, wie sein Wahn ihm suggeriert hatte.
    Dann kam unerwarteter Besuch. Ein vollständig in Weiß gekleideter, älterer untersetzter Herr mit kahlem Schädel und runder Brille begehrte ihn zu sehen. Er trug einen schwarzen Binder um seinen Stehkragen, eine fleckigen weißen Mantel mit zahlreichen Taschen und transportierte einen kleinen Metallkoffer.
    „Mein Name ist Eugen“, erklärte er, „und ich bin Facharzt für Nervenkrankheiten. Ich würde mich gerne einmal mit Ihnen unterhalten.“
    Darius wusste nicht, was er sagen sollte. Wie war die Nachricht von seinen Fieberphantasien nach außen gedrungen? Er entschloss sich, sich unbedarft zu stellen.
    „Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen“, erwiderte er, „gibt es einen besonderen Anlass

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