Die schlafende Stadt
die Brüstung. Endlich konnte er seiner ungewohnten Neugier freien Lauf lassen.
Darius beobachtete als erstes die Gasse, die zum Tempel führte. Zwei kleine Jungen mit schwarzen Hüten liefen dort entlang und trieben einen Reifen mit ihren Stöcken voran. Er sah sie so nahe, als wären sie direkt vor ihm.
Er schwenkte das Teleskop etwas höher. Dort war der Stadtteil, in dem er sich kürzlich verirrt hatte. Er erkannte deutlich den hohen, durchbrochenen Kirchturm. Der war also real – gut zu wissen. Ansonsten war nichts auffällig – abgesehen davon, dass ihm der Anblick düster, fremd und ungewohnt vorkam. Dann richtete er seinen Blick auf den Hafen.
Dort lagen die üblichen Boote. Das Verwaltungsgebäude war wie auch sonst erleuchtet, die Kaimauer war von einigen wenigen Laternen erhellt. Die See war ruhig. Jenseits der Hafenmauer näherte sich ein Boot. Da kam wieder jemand. Darius wurde aufgeregt. Es war streng verboten, Neuankömmlinge zu beobachten. Überhaupt war es verpönt, Neugierde zu zeigen; man sah nicht in anderer Leute Fenster, man betrachtete einander im Grunde überhaupt nicht. Er stellte aber fest, dass ihn dies mehr interessierte als vieles andere in der Stadt. Gespannt drehte er an der Ferneinstellung und holte das Boot näher heran. Ein Mädchen saß darin.
Darius mochte den Blick nicht abwenden. Es gab viele junge Frauen in der Stadt, aber diese war anders.
Er fokussierte auf das Gesicht. Da war etwas.
Er starrte angestrengt durch das Objektiv und presste seinen Augapfel verkrampft dagegen.
Das Mädchen hatte grüne, strahlende Augen.
Grün!
Noch nie hatte er so etwas wie eine Farbe gesehen. Und doch ... er kannte diese Farbe.
Darius begann erregt zu zittern, eine Regung, die er auch stets geleugnet hatte zu kennen. Wie gebannt starrte er durch das Teleskop. Ein wunderschönes Gesicht war es, das zu den grünen Augen gehörte. Voller Tiefe, voller Anmut, voller Trauer. Ihre schwarzen Haare wehten im Wind. Unverwandt sah sie in Fahrtrichtung.
Plötzlich wandte sie sich zu ihm. Ihre Blicke schienen sich zu treffen. Tief, unendlich tief sahen sie sich an. Es war fast so, als berührten sie sich. Eine schmerzvolle Sehnsucht durchflutete Darius, voller Ahnung um etwas, was es nicht geben konnte. Unwillkürlich formten seine Lippen einen Kuss und sandten ihn zu der fernen Gestalt.
Ihm brannte das Auge. Kurz setzte er das Objektiv ab. Er war noch in derselben Kammer wie zuvor. Um sich herum die Zinnen des Südturms. Hastig klammerte er sich an das Teleskop. Nur mühsam fand er das Boot wieder und er verfluchte sich, dass er sich von einer Sekunde der Schwäche hatte hinreißen lassen.
Er erkannte deutlich die schlanke, schöne Gestalt an seinem Heck. Aber die wundervollen grünen Augen waren verschwunden. Das Boot hatte gewendet und fuhr fort. Es wurde kleiner und kleiner und war schließlich im ewigen Nebel des Horizontes verschwunden.
Darius saß noch lange an seinem Platz. Gelegentlich sah er nochmals durch sein Teleskop, tat dies aber, ohne recht bei der Sache zu sein. Er träumte, aber anders, als er es bisher in den wenigen seltenen Fällen erfahren hatte. Er wandelte wie durch einen sanften Nebel, zuversichtlich wissend, dass seine suchende Hand alsbald etwas ergreifen würde, etwas unsagbar Schönes, Wunderbares. Noch nie war ihm die Stadt so angenehm und anheimelnd erschienen, noch nie hatte die Wirklichkeit ihm etwas so Freudvolles versprochen. Überrascht stellte er fest, dass er wacher und klarer war als sonst. Woran dies auch immer lag, seine Ermattung war fort. Er fühlte Tatendrang, ja geradezu Unruhe, die er ansonsten als Angst gedeutet hätte. Aber diesmal gab es einen Unterschied. Darius blickte nochmals durch das Teleskop, aber wie schon die inzwischen unzähligen Male zuvor gab es kein Boot, zumindest keines, das Jene beherbergt hatte, die er suchte.
Er lief die Treppenstufen hinunter. Das Observatorium beengte ihn. Ein paar Schritte noch sollten ihm gegönnt sein, bevor die Nacht zu Ende ging. Als er die Hauptpforte durchschritt, spürte er auf eine ganz neue Weise die Erhabenheit und Schönheit dieser Stadt am Meer. Andächtig tauchte er seine Hand in das Wasserbecken am Fuße des Klosters. Unzählige Male war er daran vorbeigegangen, aber noch nie war ihm bewusst gewesen, dass es eine unregelmäßig, schön geschwungene Form eines Paisleys hatte. Das Wasser plätscherte aus einem Affenkopf, der sich aus einer blätterartigen Struktur herausreckte. Geradezu
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