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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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und gesichtslosen Werke, die von nichts berichteten als von Verlorenem.
    Darius hielt inne. Sollte die ganze Bibliothek ein einziger riesenhafter Aufbewahrungsort von Vergessen sein? Bis jetzt war bei keinem einzigen Buch herauszufinden gewesen, welchen Inhalt sie einst beherbergt hatten. Welchen Sinn machte also diese riesenhafte, von niemandem frequentierte Bibliothek?
    Endlich stieß er auf ein lesbares Buch. Es erschien ein wenig neuer als die anderen, war aber in der Alten Sprache abgefasst und enthielt folglich lauter fremdartige Lettern, deren Laut Darius zwar bekannt war, aber seine Sprachkenntnisse nicht ausreichten, um wirklich am Inhalt teilzuhaben. Das Buch befasste sich mit Versteinerungen von Muscheln und enthielt auch mehrere Strichzeichnungen dazu.
    Im gleichen Gang waren nun auch andere funktionsfähige Werke zu entdecken, einige auch in der gegenwärtigen Alltagssprache verfasst, andere zumindest in moderner Transkription. Rätselhaft blieb aber, nach welchem System sie geordnet waren. Direkt neben einem dickleibigen Band über Statik befand sich eine Studienreihe über niedere Pflanzen, gefolgt von einem traditionellen Gebetbuch, wie es noch vor hundert Jahren im Tempel gebräuchlich gewesen war. Auf ein schmales Werk über die Nutzung von Wasserkraft beim Transport von Postkugeln folgte eine Artikelsammlung über historische Parkbänke. Zwischendurch fanden sich immer wieder die alten, unleserlichen Bücher; eines von ihnen löste sich unter Darius’ Berührung vollständig in seine Bestandteile auf und bedeckte Darius’ Hände mit einem kalten, klebrigen, zähen Matsch. Angewidert streifte er seine Hände an den Regalbrettern ab. Den Rest wischte er in sein Taschentuch.
    Entweder war die gesamte Bibliothek unsagbar nachlässig und gleichgültig geführt, oder aber es gab eine irre Logik der Ordnung, die Darius nicht verstand. Oder aber es gab noch einen anderen tieferen Sinn für die wahllose Anordnung der Bücher. Fest stand: Wer hier systematisch etwas suchte, würde nichts finden, es sei denn aus Zufall.
    Darius merkte mit einem Mal, dass er wütend war. Es war nicht allein die Enttäuschung darüber, hier nichts erreichen zu können, ihn ärgerte die verächtliche Gleichgültigkeit, mit der wertvolles Wissen hier dem Verwesen und dem Chaos überantwortet wurde. Was hatte dieser verwirrte Bibliothekar den ganzen Tag zu tun? Darius spähte über die Balustrade. Der Bibliothekar saß noch immer an seinem Pult und las selbstvergessen in einem großformatigen Sammelband. Nach wie vor war Darius der einzige weitere Anwesende. Angesichts der hier anzutreffenden Ordnung und dem Zustand der Bestände erschien ihm das nicht mehr verwunderlich.
    Darius war grimmig entschlossen, sich nicht so einfach geschlagen zu geben. Er tauchte wieder ins Zwielicht der Gänge und untersuchte die Bücher. Wenn er aus einem sehr spitzen Winkel auf die Buchrücken schaute, konnte er unterschiedliche Reflexionseigenschaften des dämmrigen Lichtes erkennen. Je mehr die Bücher von dem Belag befallen waren, desto stumpfer sahen sie aus. Je neuer ein Buch war, desto mehr Lichtreflexe waren zu sehen. Nur die ganz vermoderten Bücher täuschten, denn sie sonderten eine klebrige Flüssigkeit ab, die dem Rücken eine trügerisch glänzende Oberfläche verlieh. Darius hatte prompt ein weiteres Mal in schwarzen, zähen Moder gefasst. Das ekelhafte Zeug sammelte sich unter seinen Fingernägeln und rann sein Handgelenk hinunter in seinen Ärmel hinein. Er unterdrückte einen Fluch und setzte seine Suche fort.
    Allmählich konnte er feststellen, dass sein System wirkte. Er fand jetzt ausschließlich lesbare Bücher, die ihn leider nur wenig interessierten, mit Ausnahme eines Astronomieatlanten, der allerdings weit vom gegenwärtigen Stand der Forschung entfernt war. Auf der ersten Seite waren dicke waagrechte Pinselstriche eines mittlerweile brüchig gewordenen vergilbten Lackes zu sehen. Offenbar hatte jemand etwas übermalt. Durch Biegen der Seite platzen einzelne Stücke gleich ab, der Rest ließ sich mit dem Daumennagel entfernen. Darius legte eine Widmung frei:

    Verknotete Schnürsenkel? Trüffelöl? Darius schüttelte den Kopf und stellte den Atlas an seine Stelle zurück.
    Dann wieder kamen endlos lange Abschnitte der unbrauchbaren Bücher. Erschreckend, welch großen Anteil sie am Gesamtbestand hatten. Mitten unter ihnen fand Darius ein kleines, verhältnismäßig sauberes und vor allem stabiles Buch, das bisher

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