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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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jeweils oberste Sprosse. Darius erklomm die Leiter höher und höher, bis ein verdächtiges Ächzen ihn wiederum regungslos erstarren ließ. In seinen Schläfen pochte es wie wild, aber dennoch war seine ruhige Konzentration so stark, dass jede seiner Bewegungen exakt und kontrolliert war. Diesmal waren es die Holme, die ihre Schwäche kundtaten und verdächtig knarrten. Richtig, er war genau in der Mitte der Leiter. Darius sah weder nach oben noch nach unten. Behutsam, unendlich behutsam kletterte er weiter. Nur noch ein Meter war zurückzulegen, dann war es geschafft. Das Ächzen wurde ein bisschen weniger. Oder war dies nur sein sehnlicher Wunsch? Ruhig, nur ruhig. Jede Art von Hast könnte ihn jetzt zum Sturz bringen. Ihm fuhr durch den Kopf, wie auffällig er sich durch sein Tun machte. Welcher Stadtbewohner täte dies? Womöglich war er seit über hundert Jahren der erste, der eine solche Leiter benutzte! Vier, nein jetzt nur noch drei Sprossen trennten ihn vom dritten Stockwerk. Weiter schob er sich in die Höhe. Ausgerechnet die obersten Sprossen fühlten sich wieder feucht und weich an. Außerdem waren sie mit jenem klebrigen, schmierigen Belag überzogen, ähnlich wie die Bücher von unten. Darius verteilte sein Gewicht noch mehr mit Hilfe seiner Knie und Ellbogen. Er lag förmlich auf der Leiter und atmete derart kurz, dass seine Umgebung begann, zu flimmern und sich zu drehen. Noch eine Sprosse! Und weiter nach oben! Noch weiter! Darius zitterte. Er dachte an die grünen Augen. Diese wunderbaren, unbeschreiblichen grünen Augen in dem schönen Gesicht mit dem dunklen, wehenden Haar. Wegen ihr war er hier. Seine Hand berührte das Geländer des dritten Stockwerkes. Sie zog seinen Körper empor, höher und höher. Sein Oberkörper glitt auf den Boden, sein Gesicht berührte die staubigen Dielen. Er stemmte sich weiter und lag endlich erschöpft aber sicher auf festem Grund.
    Mit dem Blick zur Kuppel war es ihm, als habe sich nicht das Geringste verändert. Sie war noch immer so weit und unerreichbar wie zuvor. Ein Blick nach unten aber besagte das Gegenteil. Die Höhe war beträchtlich, fast schwindelerregend, zumal die Brüstung noch mehr in die Mitte vorragte als die des darunterliegenden Stockwerkes, von der schmalen Einbuchtung für die Leiter abgesehen. Er wandte seinen Kopf. Seinem Blick boten sich ähnliche dunkle Gänge wie zuunterst, alle vollgestopft mit Büchern aller Breite und Größe. Darius erhob sich und betrat den ersten Gang. Alles war genauso wie unten, mit Moder und Schimmel befallene Bände ebenso wie einigermaßen unversehrte. Der erste Band, den er als lesbar identifizierte, war eine Faksimileausgabe der Flugkonstruktionen des Leonardo da Vinci.
    Leonardo da Vinci . Da war es wieder, jener ferne Nachhall einer Erinnerung. Oder eines Traumes? Was war da in den Tiefen seines Geistes? Der Name kam ihm bekannt vor, er löste ganz andere Reaktionen aus als die des Audomar Killywell. Die abgebildeten Zeichnungen waren ihm jedoch unbekannt. Er erinnerte sich jetzt auch daran, dass hier eigentlich juristische Werke stehen sollten. Wieder hatte ihn der Bibliothekar belogen. Oder er hatte in seiner Verwirrtheit Unsinn erzählt.
    Das nächste heile Buch war wieder in der Alten Sprache, genervt stellte er es zurück. Dann aber entdeckte er ein Buch mit dem stimmungsvollen Titel „Der kleine Maulwurf Morris“, von George T. Goodfellow. Es handelte sich um ein Kinderbuch, und enthielt auch mehrere witzige Illustrationen, die Tiere in menschlicher Kleidung zeigten. Tiere! Fasziniert starrte er auf die Bilder. Alles schien so vertraut, wo er sich aber doch sicher war, nur Katzen leibhaftig gesehen zu haben, und die großen dunklen Vögel, die den großen Festungsturm oft umkreisten. Juristische Literatur, von wegen!
    Im gleichen Regal fand er einen dicken Sammelband einer illustrierten Zeitschrift namens „Simplicissimus“. Im Gegensatz zur sonstigen Systematik dieser Bibliothek waren die Ausgaben sorgfältig nach Jahrgängen geordnet, die für Darius aber keinen Sinn machten. Die Sammlung endete mit der Zahl „1915“, und zeigte auf dem Titelbild der letzten Ausgabe einen behelmten, üppig dekorierten Offizier mit einem gewaltigen Schnurrbart und einem ausgesprochen entschlossenen, herrischen Blick. Ein Mann ohne Selbstzweifel, eindeutig.
    Daneben fand er ein „Compendium der Kräuterheilkunde. Von Essenzen, Tincturen und Elixiren“, von Benedikt Hofmeister. Ein uraltes Buch in eigenartig

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