Die schlafende Stadt

verschnörkelter Schrift, die schwer zu lesen war.
    Weiter oben fand er eine Reihe von Romanen, deren Titel neugierig, andererseits ratlos machten, weil er einige Begriffe nicht kannte. „Der Golem“, von Gustav Meyrink. Merkwürdig. „Melmoth, der Wanderer“, von Charles Robert Maturin . „Schatten über Innsmouth“, von Howard Phillips Lovecraft. Kein Zweifel, hier waren die interessanteren Bücher untergebracht! Hierhin würde er noch mehrmals zurückkehren, das stand fest. Er fühlte einen leisen Triumph.
    Plötzlich zuckte er zusammen. Kaum merklich vermeinte er, ein unregelmäßig rhythmisches Geräusch zu hören. Darius lauschte angestrengt. Jetzt war nichts zu hören. Doch, da war es wieder! Er schlich an das Ende des Ganges. Jetzt konnte er eine grobe Richtung feststellen. Sicher war jetzt, dass es von der linken Seite kam, also wandte er sich auch dorthin und setzte lautlos Schritt vor Schritt. Er tastete sich an der Mauer weiter voran und durchquerte noch drei weitere Gänge. Darius stoppte unwillkürlich. Er war jetzt wie angewurzelt, denn das Geräusch von gerade hatte jetzt merklich lauter eingesetzt. Es handelte sich um eine menschliche Stimme.
    Das nächste Bücherregal reichte genau bis zur Außenmauer und zwang Darius, wieder in Richtung Halle nach innen zu gehen. Doch genau durch einen Spalt zwischen zwei Büchern schien Licht. Darius bewegte sich lautlos wie eine Katze dorthin, steckte zwei Finger in den Spalt und drückte die Bücher auseinander. Jemand räusperte sich. Darius hielt den Atem an. Er presste sein Auge an den Spalt. Es war nichts zu sehen außer einem kleinen Sekretär an der gegenüberliegenden Wand, auf dem ein fünfarmiger, sehr verschnörkelter Kandelaber stand und der für das Licht verantwortlich war. Darüber an der Wand konnte er noch ein Stück eines großen Portraitbildnisses ausmachen. Das Scharren von Füßen verriet die Anwesenheit mindestens einer weiteren Person.
    „Aber wir sind uns doch einig, dass bis jetzt nichts Dramatisches vorgefallen ist!“ sagte die Stimme jetzt. Eine tiefe, sonore Stimme in gedämpftem Ton.
    „So soll es auch bleiben!“ antwortete eine hohe, meckernde Stimme, die ebenfalls um Flüstern bemüht war. „Daher müssen wir auf der Hut sein!“
    „Ich denke, unser Bruder, den wir ihm zugeteilt haben, wird das Seinige tun, um alles unter Kontrolle zu halten“, raunte wieder der erste Redner. „Schließlich gibt es hin und wieder einmal Mitbürger, die etwas sensitiver sind als die anderen. Er hat wirksame Mittel und Wege.“
    „Es scheint aber etwas geschehen zu sein“, beharrte die hohe Stimme. „Der Verdächtige beginnt bereits Auffälligkeiten zu entwickeln. Es besteht größte Dringlichkeit zum Handeln. Ich habe den Verdacht, unser Bruder hat ihn nicht sonderlich gut im Griff.“
    Eine dritte Stimme erhob sich wispernd. Eine brüchige, alte Stimme. „Er hat eine rote Katze angelockt.“
    Darius erstarrte. Man redete von ihm! Bebend versuchte er, seinen Atem unter Kontrolle zu halten.
    „Damit“, erklärte die hohe Stimme mit einem süffisanten Unterton „wird er allgemein gefährlich.“
    „Wie ist so etwas möglich?“ zischte die tiefe Stimme. „Das Institut für Einbürgerung garantiert doch die weitgehende Löschung sinnlicher Empfindungen. Wenn man dort schlampig gearbeitet hat, müssen wir das Institut überprüfen.“
    „Wenn es dort einen Verräter gibt, müssen wir gnadenlos sein“, erklärte die hohe Stimme. „Aber wir müssen uns zuerst um unseren Ausscherer kümmern.“
    „Eure Schlussfolgerungen sind sehr gewagt“, wisperte die brüchige Stimme mit einem Anflug von Zorn. „Wahrscheinlich ist alles Eure Schuld. Eure Wachen waren es doch, die dieses Theater im Tempel veranstaltet haben! Wahrscheinlich hat dies eine Empfindung ausgelöst!“
    „Das, was Sie ‚Theater’ nennen, war eine absolute Notwendigkeit, Sie Ignorant!“ meckerte die hohe Stimme. „Wir haben hunderte Male Ähnliches durchgeführt, ohne dass jemand irgendwelche Lebendigkeiten entwickelt hätte!“
    „Das behauptet Ihr immer wieder. Dabei ist es unnötig riskant. Die Wahrheit ist doch, dass es Euch und Euren Schergen Spaß macht! Ihr ergötzt euch daran, die eigene Dumpfheit durch Gewalt aufzulockern! Damit bringt Ihr das ganze System in Gefahr!“
    Die hohe Stimme kollerte wie ein Truthahn. „Sie ...!“ kreischte sie.
    „Halten sie sich zurück! Beide!“ grollte die tiefe Stimme.
    Man hörte erregtes Atmen.
    „Ich werde ihnen