Die schlafende Stadt
abzustürzen. Nur noch wenige Meter trennten ihn vor der rettenden Dunkelheit. Nochmals stieß er sich ab, überwand eine gewaltige Stufe, kroch noch etwas weiter und rollte mehr als dass er ging in den Schatten.
Darius rang nach Luft. Sein Herz klopfte wie zum Zerspringen, sein Kopf drohte förmlich zu bersten, und seine Lungen schmerzten. Er grub seine Hände in die kalte, feuchte Erde, auf der er lag. Vor seinen Augen tanzten flirrende Funken und dunkle Flecken, und es dauerte eine ganze Weile, bis er erkannte, dass er es geschafft hatte. Endlich begann er wieder, seine Umgebung auszumachen, so sehr hatte ihn das helle Licht geblendet. Schaudernd sah er nach dem Ausgang, wo bereits helle Lichtstrahlen alles mit eigentümlichem Leuchten erfüllten. Er kroch tiefer in die Höhle hinein. Nur indirekt getraute er sich, das Licht von draußen anzusehen. Er schloss die Augen. Wie Beda wohl reagieren würde? Beda! Wieso nur dachte er an ihn immer zuerst? Beda war sein Freund, nicht sein Aufpasser. Wer weiß, wie oft er früher selbst solche Dummheiten gemacht hatte. Er würde Beda ganz ruhig und gelassen von seinem Abenteuer berichten und sogleich zur Tagesordnung übergehen.
Mit der Zeit hatte Darius sich erholt. Er erhob sich bald sogar und fand die Höhle mannshoch, aber in der Tiefe immer niedriger werdend. Er beschloss, seine Umgebung erst zu erkunden, ehe er den Einbruch der Dunkelheit abwartete. Vielleicht gab es sogar einen Weg durch den Fels in die Stadt zurück?
Inzwischen hatte er seinen gewohnten Blick zurückgewonnen. Er konnte wieder in der Dunkelheit alles sehen und drang tiefer in die Höhle ein. Sie endete aber schon bald in einer Art Kammer, deren Decke wieder erheblich höher war als der vorherige Teil. Dort schien sie sich mittels eines schmalen Kamins senkrecht fortzuführen, doch dieser war unmöglich zu erreichen. Er würde also hier abwarten und wieder über den steilen Pfad zur Stadt gelangen müssen. Seufzend versuchte er, sich mit dem Gedanken anzufreunden. Nein, es gab wirklich keinen Weg hier heraus. Er musste ausharren. Darius beschloss, noch ein wenig zu ruhen. In der Nähe des Einganges würde er am besten den richtigen Zeitpunkt ausmachen können, wenn er das brennende Licht endlich schwinden sah. Hier in der Kammer war es so finster, dass selbst er die Einzelheiten nur schemenhaft ausmachen konnte. Er wollte eben gehen, als er eine eigenartige Struktur erkannte, die sich von der sonst so glatten Steinoberfläche deutlich unterschied. Zunächst dachte er an einen flechtenartigen Bewuchs, aber seine Finger ertasteten zu seiner Überraschung Mulden und Ritzen. Es waren Lettern, eingeritzt von unbekannter Hand:
Die letzte Zeile war kaum zu entziffern und Darius vermochte auch keinen Sinn darin zu erkennen. Der Autor schien Schwierigkeiten mit der Weisheit der Kaddharsiaden zu haben, ein revolutionärer Gedanke, der Darius nicht ganz fremd war. Er erschrak, als er sich dabei ertappte. Er wiederholte die ungelenken Reime so lange, bis er sicher war, sie nicht zu vergessen. Er würde ihre Bedeutung noch herausfinden.
Endlich war die Dämmerung angebrochen. Darius hatte die Zeit in einer Art Halbschlaf verbracht aus dem er beständig aufschreckte, um den Status des Lichtes zu prüfen. Während dieser Zeit dachte er an das unbekannte Mädchen und malte sich aus, wie die erste Begegnung verlaufen würde. Wie sie wohl heißen mochte? Er versuchte, sich einen passenden Wortklang zu überlegen, aber zu keinem erinnerte er einen Namen. Manchmal erschien es ihm, er wäre kurz davor, aber das Wort drang nicht zu ihm durch. Nun, da das Licht merklich schwächer wurde, wurde er wieder unruhig.
Vorsichtig näherte er sich dem Ausgang und streckte seine Hand ins Freie. Das Licht brannte noch immer auf seiner Haut. Noch kurze Zeit, dann würde er sein Gefängnis verlassen können. Das Licht wurde schließlich so schwach, dass er es nun riskieren wollte. Er überprüfte die Strahlung wiederum erst mit der ausgestreckten Hand, aber jetzt war es plötzlich angenehm. Er kroch aus dem Eingang. Noch war die Nacht nicht gekommen, aber die Sterne waren bereits am Himmel zu sehen. Am Horizont strahlte der Himmel noch immer ungewöhnlich hell, aber die Gefahr war eindeutig vorüber. Darius sah vom Meer zur Stadt herüber. Kein Licht war in den Häusern zu sehen. Sie wirkte wie eine riesenhafte, menschenleere Ruine, leblos, gigantisch. Die Pracht im Angesicht des Mondes war einem Eindruck von Tod und Verfall
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