Die schlafende Stadt
einzigartig war. Der Titel lautete: „Die süße Träne“. Es war eine Werkausgabe des Audomar Killywell, eines Dichters, von dem er noch nie etwas gehört hatte. Er überflog die Gedichte. Sie waren in gegenwärtiger Sprache geschrieben, keine hohe Kunst, aber erholsam nach all dem verstaubten, nichtssagenden Wust, den er bisher erblickt hatte. Eigenartig - Poesie, hier, inmitten der ganzen leichenhaften Sachliteratur? Dies könnte ein echter Sortierfehler sein. Für hier bedeutete dies: womöglich ein wertvoller Fund. Sein Ärger wich einem angeregten Interesse. Kurz entschlossen versenkte er das Buch in einer der tiefen Innentaschen seines Gehrockes und verschloss die entstandene Lücke im Regal, indem er die Bücher etwas verschob.
Zufrieden war er aber noch immer nicht. Nach wie vor besaß er keinerlei Informationen über die Meldebehörde, geschweige denn von ihren Karteien. Ein Stockwerk höher sollte die juristische Abteilung zu finden sein, wenn man dem Bibliothekar Glauben schenken konnte. Darius begutachtete die Leitern, die gefährlich nahe an der Brüstung standen. Wenn sie in einem ähnlichen Zustand sein sollten wie manche Bücher hier in diesem Hause, so war Vorsicht geboten. Er probierte die erste Sprosse der nächststehenden Leiter. Sie brach sofort, sie knackte noch nicht einmal, so verfault war sie. So war das also! Was auch immer dort oben zu finden war, es war gut abgeschirmt. Darius ging zur nächsten und drückte diesmal nur mit der Hand. Die Sprosse löste sich sofort aus ihrer Verzapfung und hinterließ ein großes zerfranstes Loch im Holm. Darius biss die Zähne zusammen. Der Bibliothekar, den er weit unter sich sah, nahm keinerlei Notiz und saß noch immer unbeweglich vor seinen Texten. Einmal kurz fuhr er sich durchs spärliche Haar, dies war das einzige Lebenszeichen. Darius ging verbissen zur nächsten Leiter. Er setzte seinen Fuß auf die erste Sprosse, ganz nah an den Rand, und begann vorsichtig sein Gewicht darauf zu senken. Gleichzeitig fasste er eine Sprosse weiter höher und griff dann eine weitere, um sein Gewicht möglichst gleichmäßig zu verteilen. Dann schob er seinen Körper langsam nach oben. Die Leiter hielt! Darius blickte nach oben. Die Leiter maß gut und gerne sieben Meter. Sieben Meter, auf denen sie brechen und ihn tief fallen lassen konnte. Ob sich das wirklich lohnte? Darius zog sich vorsichtig in die Höhe, Zentimeter um Zentimeter. Bloß keine ruckartigen Bewegungen. Er löste den Griff seiner Hand von der Sprosse und griff nach oben. Sanft erhöhte er die Belastung. Die Sprosse fühlte sich relativ trocken an. Darius schob seinen Körper weiter in die Höhe, setzte seinen Fuß auf eine höhere Sprosse und kletterte höher. Die Leiter hielt noch immer. Zaghaft löste er den Griff seiner anderen Hand und griff die nächste Sprosse. Langsam belastete er auch sie. Mit einem schmatzenden Laut löste sie sich aus dem Holm und Darius sackte nach unten. Die Sprosse schlug dumpf auf dem Boden auf, sprang durch eine Lücke in der Balustrade und tat einen langen Fall. Dann landete sie auf den gekachelten Boden der Halle.
Darius hing wie erstarrt auf der morschen Leiter. Das Echo des Aufschlages hörte sich angesichts der Grabesstille in der Bibliothek an wie ein Kanonenschuss. Verstohlen spähte er nach unten. Der Bibliothekar zeigte keinerlei Reaktion. Darius verharrte regungslos und ließ mehrere Minuten vergehen. Als der Bibliothekar schließlich eine Seite umblätterte, war Darius sich sicher, dass er unbemerkt geblieben war. Er griff nach der nächsten heilen Sprosse und versuchte es erneut. Diese hielt, obwohl ein kaum merkliches Quietschen verriet, wie nachgiebig auch sie war. Darius atmete betont ruhig und konzentriert. Das andere Bein war an der Reihe. Behutsam löste er es von der Sprosse und verteilte das Gewicht sorgsam auf die anderen drei belasteten. Langsam ertastete er sich die nächste und erhöhte sanft, aber bestimmt sein Gewicht. Dann schob er sich höher. Einen Meter hatte er somit bereits gewonnen. Die nächste zu erreichende Sprosse machte wiederum einen trockenen und daher stabilen Eindruck. Sie hielt auch tatsächlich, und Darius konnte sich wieder ein paar Zentimeter nach oben bewegen. Er hatte nun den Bereich der bereits erprobten Sprossen erreicht, die auch leicht kenntlich waren, dass sie an den Stellen, wo Darius sie gegriffen oder betreten hatte, von Staub frei waren und ihre glatte Oberfläche freigelegt war. Neu war jetzt nur noch die
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