Die schlafende Stadt
ausnehmend schön aus in ihrem Festtagskleid. Sie merkte, dass Madame Hirschberg dies missbilligte und freute sich in der Tiefe ihrer Seele daran. Als Onkel Edgar ihr gutgelaunt einige überschwängliche Komplimente machte, war es endlich zu spät, sie noch auf ihr Zimmer zu schicken. Stattdessen wurde Sophia zum Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit, als Claudine, die für die musikalische Gestaltung des Abends verantwortlich war, den Gästen mit warmen Worten Sophia als neues großes Talent vorstellte.
Sophia lächelte innerlich. Ein Triumph stand ihr bevor, sie spürte, dass dies in der Luft lag. Ruhig und beherrscht setzte sie sich an den Flügel und spielte Frédéric Chopins berühmte Étude № 12 in c-moll, die sie in den vergangenen Woche bis zur Perfektion geübt hatte. Leicht und präzise glitten ihre schlanken Finger über die Tasten, die Läufe düster und mächtig anschwellend, dramatisch und vital. Fast zu energisch und ungestüm für eine Frau.
Das Publikum lauschte gebannt. Noch Sekunden nach dem Schlussakkord war andächtige Stille. Dann brach begeisterter Applaus los. Bernadette Delacroix, die Frau eines reichen Lederfabrikanten, strich ihr anerkennend über die Schultern.
„Formidable!“
Selbst der sonst so ernst und düster dreinblickende Doktor Moreau prostete ihr mit ungewöhnlich mildem Lächeln zu. Die anderen edlen Herren schwenkten lachend ihre Champagnergläser. Claudine strahlte. Fast zärtlich ruhten ihre blauen Augen auf ihrem Schützling. Gleich mehrere Gäste suchten Sophias Aufmerksamkeit und plauderten angeregt mit ihr. Man äußerte sich begeistert über ihr Sprachvermögen.
„Incroyablement! Vous êtes ici seulement six mois!“ staunte Émile de Prévenchères, ein reicher Bankier, der mit einem amerikanischen Gast, einem jungen Mann namens Prescott Wilson erschienen war, der nicht von seiner Seite wich, und der hocherfreut war, dass Sophia sich auf Englisch an ihn wandte.
Madame Hirschbergs Gesicht war zu einer maskenhaften Fassade erstarrt. Sie bewegte sich wenig, bewegte sich unverwandt durch die Gästeschar und sagte auch kein Wort, als Sophia ihr kurz direkt gegenüberstand. Sie ließ sich sogar zu einem leisen Lächeln herab, als die Marquise de Saint-Méran ihr zu ihrer „reizenden Nichte“, gratulierte. Sophia wandte ihr direkt ihr Gesicht zu ohne zu lachen, und ertrug unbeeindruckt ihren hasserfüllten Blick.
Als der Abend merklich fortgeschritten war, war auch Sophia erfüllt und gesättigt von den vielen Komplimenten, die sie bekommen hatte. Die Wangen gerötet und leicht beschwipst von dem Glas Champagner, aufgenötigt von Monsieur Poulain, dem langhaarigen Kunsthändler, strebte sie der Treppe zu. Madame hatte ihr am Türausgang noch zugezischt: „Ihre Selbstgefälligkeit wird Sie noch teuer zu stehen kommen, Mademoiselle“, aber mit ähnlichem hatte Sophia gerechnet. „Peut-être, ma chère tante“, hatte sie geantwortet, ohne Madame noch weiter zu würdigen.
Die anderen Gäste frönten noch ausgiebig der Freigiebigkeit des Gastgebers. François musste ein ums andere Mal in den Keller, um weitere Weinflaschen zu holen. Édouard, der noch halbwüchsige Sohn des Galeristen Malvaux, hatte bereits eine violett verfärbte Nase, ließ sich aber weiterhin zügig nachschenken. Die meisten sahen großmütig darüber hinweg, einige jüngere Damen tuschelten schadenfroh. Die älteren ihres Geschlechts zeigten nach und nach erhebliche Symptome von Müdigkeit, und sanken auf die verschiedenen Recamièren nieder, während die meisten Herren erst richtig in Fahrt gekommen waren und lautstark über die neuesten Entwicklungen des Kunstmarktes plauderten. Prescott Wilson bekleckerte am Bufett seinen Freund Émile versehentlich die Wildlederschuhe mit Trüffelöl und erntete dafür zum Befremden des Kardinals Claude Frolleau einen sanften Klaps auf den Allerwertesten. Dieser nahm dies zum Anlass, sich als erster zu empfehlen und das Fest zu verlassen.
Sophia war müde und aufgekratzt gleichzeitig. Ihr Triumph über Madame an diesem Abend hinterließ ein gemischtes Gefühl. Sie würde dafür bezahlen müssen. Sie ging zunächst noch nicht auf ihr Zimmer, sondern in die Küche, um sich ein Glas warme Milch zu machen.
Vorsichtig und in kleinen Schlucken trank sie. Sie versuchte, ruhig zu atmen. Zur Not würde sie ein paar Tropfen Laudanum einnehmen. Rosalie, die Köchin bewahrte eine große Flasche hinter den Zuckervorräten auf. Der Pegel hatte sich im letzten Monat
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