Die schlafende Stadt
beiden jetzt sagen, was zu tun ist“, begann die tiefe Stimme wieder betont leise. „Unser Ausscherer wird zunächst ruhig gestellt. Wenn er sich nicht wieder einordnen lässt, sehen wir weiter.“
„Er muss eliminiert werden!“ meckerte die hohe Stimme.
„Halten Sie den Mund! Durch Ihr Verhalten ist die Bevölkerung womöglich beunruhigter als uns allen lieb ist! Ich wünsche keinerlei spektakuläre Maßnahmen in der nächsten Zeit. Es muss Ruhe einkehren. Ich wünsche auch keine Belästigungen durch sogenannte Fachärzte. Das mag eine nette Idee gewesen sein, aber selbst wir können nicht normal arbeitende Mitbürger einfach in eine Anstalt stecken. Dies lenkt nur unnötig Aufmerksamkeit auf uns. Er ist zu gerissen. Eigentlich bräuchten wir so jemand in unseren eigenen Reihen. Und Ihr Institut“, wandte er sich an den dritten Anwesenden, „werde ich sorgfältig überwachen lassen. Aber dies werden Sie für sich behalten. Sie werden die nächste Zeit ein paar neue Mitarbeiter bekommen. Sie verstehen, was ich meine?“
„Ich habe Euch verstanden“, erklärte die brüchige Stimme demütig.
„Kein Wort zu Ihren Beamten.“
„Kein Wort.“
„Damit sind wir uns einig. Nicht wahr?“ flüsterte die tiefe Stimme schneidend.
„Wenn Sie das sagen...“, presste die hohe Stimme hervor.
„Sie werden sich zurückhalten“, sagte die tiefe Stimme langsam. „Sollten Sie dazu nicht in der Lage sein, sind Sie für unser System unbrauchbar. Sie wissen, was das heißt?“
„Ja“, sagte die hohe Stimme tonlos.
„In drei Tagen treffen wir uns wieder. Die Sitzung ist geschlossen . Thrât thagghet!“
„Thrât thagghent!“ murmelten die Stimmen.
Darius kauerte bewegungslos auf dem Boden. Er hörte das Rücken von Stühlen. Dann waren Schritte zu vernehmen. Dann knarrte eine Tür.
Des Nachts auf meinem Lager suchte ich,
den meine Seele liebt.
Ich suchte, aber ich fand ihn nicht.
Ich will aufstehen und in der Stadt umhergehen
und in den Gassen und Straßen suchen,
den meine Seele liebt.
Ich suchte; aber ich fand ihn nicht.
Das Hohe Lied 3
S ophia Sommerfeldt war sechzehn, als sie an jenem kalten Tag im Jahre 1893 in dem Zug saß, der sie nach Paris bringen sollte. Sie versuchte, nicht an ihre Eltern und ihre drei kleinen Brüder zu denken, die zu Hause bleiben durften.
Ihre Mutter war es gewesen, die dies alles geregelt hatte. Sophia sollte es gut haben bei den reichen Verwandten. Sie sollte eine gute Schule besuchen und ihr Französisch verbessern, und in der Zwischenzeit auf die drei kleinen Kinder ihres Onkels aufpassen, der genauer gesagt ein Cousin ihrer Mutter war.
Am meisten vermisste Sophia ihren Vater. Er hatte sich bemüht, zu lächeln, doch es war deutlich, wie traurig er war. Er lüpfte seinen Zylinder und winkte ihr lange nach. Sein roter Schal war das letzte, was Sophia noch sah, bevor der Zug den Bahnhof endgültig verließ.
Die anderen Reisenden schwiegen. Ein älterer Herr mit Kneifer vertiefte sich in seine Zeitung, eine ältere Frau starrte unentwegt in die Ferne. Ein zigarrenrauchender backenbärtiger Mann in einem karierten Anzug und dem unangenehmen Aussehen eines Filous versuchte sich an einem anzüglichen Augenkontakt. Sophia schlug beschämt die Augen nieder. Der Mann grinste.
Paris erschien Sophia unbeschreiblich groß. Auf dem Bahnhof wimmelte es von Menschen, die Züge dampften und zischten, und ein schwerer Geruch hing in der Luft. Sie kam sich verloren und einsam vor, zumal sie die Sprache kaum verstand. Ein vornehm gekleideter älterer Herr war es schließlich, der sich als Gesandter ihres Onkels zu erkennen gab; er trug ein Schild mit der Aufschrift „Mlle. Sommerfeldt“, vor sich her. Er stellte sich als François vor, den Diener von Monsieur Hirschberg, und geleitete sie zu einer Kutsche.
Ihren Onkel bekam Sophia erst nach einigen Tagen zu sehen. Er war groß und dick, hatte ein gerötetes Gesicht und einen kleinen schwarzen gezwirbelten Schnurrbart und war es offenbar gewohnt, Befehle zu erteilen. Freundlich und bestimmt, aber sehr knapp belehrte er sie über ihre Tätigkeiten und Möglichkeiten, um sie dann gleich Fernande anzuvertrauen, der drallen Haushälterin, die ihr ihr Zimmer zeigte und sie den Kindern vorstellte. Agnès, Ariane und Adelaide waren sieben, fünf und drei Jahre alt und zunächst sehr zurückhaltend und sehr ernst. In drei Wochen würde die Schule anfangen, so lange hatte sie Zeit, sich einzuleben und alle kennenzulernen.
Der erste Kontakt
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