Die schlafende Stadt
mit der Hausherrin, Frau ihres Onkels, kam erst nach fünf Tagen zustande und war nicht sehr erfreulich. Sophia war gerade dabei, Ariane beim Ankleiden zu helfen, als Agnès lautstark ihre Hilfe für sich beanspruchte. Im Nu waren die beiden kleinen Mädchen dabei, sich an den Haaren zu ziehen und zu kneifen. Adelaide begann zu brüllen, um auch einen Beitrag zu leisten, und Sophia wusste nicht, wem sie sich zuerst zuwenden sollte. Sie versuchte, die beiden Streitenden zu trennen, die aber zu allen Bösartigkeiten entschlossen waren und ihre Lautstärke noch erhöhten.
In diesem Moment betrat Madame Hirschberg das Zimmer. Augenblicklich verstummten die Kinder.
„Ich sehe, Sie haben gewisse Schwierigkeiten?“ fragte sie auf Französisch.
Es war das erste Mal, dass Sophia sie sah. Dass der erste Satz, der zwischen ihnen fiel, ein Tadel war, verhieß nichts Gutes.
Madame Hirschberg war ausgesprochen elegant. Sie trug ein rubinrotes Kleid und eine kunstvoll hochgesteckte Frisur. Schwere Ohrgehänge und eine ebenso schwere Kette vervollständigten die vornehme, wenn auch dürre Erscheinung. Ihr Gesicht jedoch war hart und unfreundlich, ihre grauen Augen blickten kalt und streng.
„Ich kann nur hoffen, dass Sie mir künftig mehr nützen als Ärger machen.“
„Natürlich, Madame Hirschberg. Verzeihen Sie“, stammelte Sophia. Sie war aufgestanden und hatte einen Knicks gemacht. „Ich werde mich bemühen!“
Madame Hirschberg schürzte unmerklich die Lippen und fixierte sie unverwandt. Dann wandte sie sich ab. Kein Wort der Begrüßung hatte sie verloren.
Es war eine schwere Zeit für Sophia, die wohl schwerste ihres Lebens. Wann immer sie Madame begegnete, gab es entweder Kritik oder sie wurde übersehen. Sophia schien nichts richtig machen zu können, und wenn sie wenigstens nichts falsch machte, kam keine Reaktion. Immer deutlicher entstand das Gefühl, wie ein lästiges Ungeziefer zu wirken, und dass der geringste Fehler zufolge haben könnte, mit Schimpf und Schande wieder nach Hause geschickt zu werden. Fernande lächelte zuweilen mitleidig, ohne je tröstende Worte zu finden. Sophia ertrug alles tapfer und mit verbissenem Fleiß. Niemals hätte sie zugegeben, dass Madame die Macht hätte, sie zu demütigen. In ihren freien Stunden lernte sie französisch und versuchte, sich bei jeder Gelegenheit zu unterhalten. Fernande hatte sie aufgetragen, alle Fehler sofort zu verbessern, was sie auch beflissen tat, sofern sie sich überhaupt traute zu reden. Bereits nach fünf Monaten sprach Sophia fast fließend, und ihre Begabung, Klänge zu erkennen und zu erinnern, ließ ihre Aussprache erscheinen, als sei sie in Paris aufgewachsen. Der einzige, der sich gelegentlich anerkennend äußerte, war ihr Onkel Edgar, wenn er von einer seiner zahlreichen Geschäftsreisen einmal in seinem Hause Zwischenstation machte. Diese Gelegenheiten waren also selten, und wenn er wieder für Wochen fort war, wurde es Sophia schwer ums Herz.
Ihrer Peinigerin gegenüber blieb sie stets höflich, was auch immer sie tat, um ihre verderbte Macht gegen sie auszuspielen. Aber sie sollte keine Freude daran haben. Sophia gab sich demütig und folgsam, und lächelte dezent, als sei sie über jede Kritik erhaben. Ihre Stunde würde noch kommen. Ihren Eltern schrieb sie nichts von der despektierlichen Behandlung, zumal Madame ihre Post zu öffnen pflegte, ehe sie sie an Sophia aushändigte. Jede Nachfrage hätte bewirkt, dass Madame sich an ihr rächte. So ließ sie ihre Eltern in dem Glauben, alles sei in Ordnung.
Die einzige echte Freude waren die Klavierstunden, die Sophia erhielt, ein Versprechen, das Onkel Edgar ihrer Mutter bereitwillig gemacht hatte. Claudine Leroux, die noch junge Dame, die er engagiert hatte, war bald sehr angetan von Sophia. Auch hier ließ sie keine Schwäche erkennen, und ihre Fortschritte beeindruckten Claudine. Claudine hatte rötliche Locken, Sommersprossen und eine deutliche Andeutung eines Pferdegesichtes, das aber einen intelligenten, tiefsinnigen Schimmer aufwies und zuweilen ungemein liebevoll aussehen konnte, besonders, wenn sie die geschickten Hände ihrer neuen Schülerin beobachtete. Von ihr erhielt Sophia das erste Lob seit langer Zeit. Sie nahm es höflich und distanziert entgegen. Insgeheim war es für sie wie ein Licht in dunkler Nacht.
Zur fünfzigsten Geburtstagfeier von Edgar Hirschberg kamen zahlreiche Geschäftfreunde, aber auch einflussreiche Gäste aus Kunst und Kultur. Sophia sah
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