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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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bis zum Ende der Andacht wieder in seinen anonymen, gefühllosen Zustand zurückfand, der ihn wieder ganz in der Einheitlichkeit der Menge aufgehen ließ. Der leere Blick auf das Pentagramm machte ihn ruhig, teilnahmslos und unauffällig.
    Dann war auch diese Andacht zu Ende. Die Menschen strömten wie üblich schweigend den Ausgängen entgegen. Beda machte Anstalten, erst alle anderen vorzulassen, denn er tat mit einem leicht genervten Gesichtsausdruck seine Abneigung gegen alles Gedränge kund. Endlich erhob auch er sich und sie gingen den letzten Besuchern hinterher. Schweigend wie alle anderen gingen sie bis zum Ausgang.
    „Mein Lieber“, begann Beda, „ich werde es dir heute einmal nachtun und unsere großartige Bibliothek erkunden.“
    Darius bemühte sich um einen ruhigen Tonfall. „Ist recht“, sagte er nach einer betont langen Pause. Innerlich war er sofort etwas beunruhigt. Nicht nur, dass er sich plötzlich nicht mehr sicher war, ob er Beda von seinem Besuch erzählt hatte oder nicht, es erschien ihm geradezu verdächtig, dass Beda ausgerechnet jetzt zur Bibliothek wollte. Geistesgegenwärtig sagte er: „Du wirst dort wenig Freude haben. Ich war vor ein paar Nächten dort. Nur völlig veralteter Kram. Ich sah mir ein paar Himmelsatlanten an und war sehr enttäuscht.“
    „Du erzähltest mir bereits, dass du dort warst“, sagte Beda, „und da kam mir doch die Idee, es selbst einmal zu versuchen. Vielleicht hast du nur an der falschen Stelle gesucht. Zurzeit habe ich ja ohnehin nichts zu tun.“
    „Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück. Sage mir aber Bescheid, wenn du ein gutes astronomisches Werk finden solltest.“
    Beda hob lässig zustimmend seinen Zeigefinger und trottete davon.
    „Ja, das ist wirklich ein Missstand mit der Bibliothek.“
    Ein junger Mann mit langen, fast weißen Haaren und sehr hellen Augen war neben Darius getreten. „Verzeihen Sie“, sagte er, „ich habe den letzten Teil Ihrer Unterhaltung zufällig mit angehört.“
    Darius war maßlos überrascht. Er musterte den Fremden. „Kennen wir uns?“ fragte er.
    „Lassen wir uns ein wenig die Straße hinabspazieren“, entgegnete der Fremde anstatt zu antworten. „Das ist unauffälliger.“
    Darius setzte sich gehorsam in Bewegung. Schweigend gingen sie los.
    „Mit wem habe ich das Vergnügen?“ murmelte Darius leise, nachdem sie bereits minutenlang gegangen waren. Er tat dies, ohne seinen Blick von der Straße zu wenden.
    „Ich weiß, es war unhöflich, mich nicht vorzustellen“, sagte der Fremde. „Nennen Sie mich Uriel.“
    „Und Sie haben ebenfalls ... Schwierigkeiten mit der Bibliothek?“ frage Darius.
    „So ist es. Schwierigkeiten.“ Es klang wie ein Vorwand.
    „Ich fand keinerlei Ordnung dort“, sagte Darius. „Der Katalog stimmt mit den Beständen nicht überein. Viele Bücher sind unbrauchbar ...“
    „... und der Bibliothekar gibt falsche Auskunft – wenn überhaupt“, ergänzte Uriel.
    „Aber was macht eine Bibliothek denn dann für einen Sinn?“ fragte Darius.
    „Sehen Sie, das ist genau das, wovon ich glaube, dass es uns beide verbindet: Sie stellen sich Fragen. Das macht uns in gewissem Sinn zu Brüdern. Seien Sie also willkommen in unserer Bruderschaft.“
    „‚Bruderschaft?’ Demnach gibt es noch mehrere etwas wachere Geister in dieser Stadt?“
    „Womöglich. Aber bei Weitem nicht so wach wie Sie.“
    „Ist es denn nicht naheliegend, Dinge erkunden zu wollen?“
    „Durchaus nicht.“
    Uriel sah sowohl aufmerksam als auch desinteressiert auf den Zypressenhain, durch den sie gerade gingen.
    „Normalerweise gehen Bürger noch nicht einmal in die Bibliothek.“
    „Und warum nicht?“
    „Weil sie nicht neugierig sind. Die meisten wollen nichts wissen.“
    „Die Bibliothek war praktisch leer“, gab Darius zu. „Aber etwas später waren ein paar wenige Besucher da.“
    „Möglich. Aber die lesen immer das Gleiche. Das, was sie bereits kennen. Es geht ihnen nicht um neues Wissen, sondern um die üblichen Rituale des Alltags.“
    Darius schwieg.
    „Es geht letztendlich nicht nur um diese Bibliothek“, fuhr Uriel fort, „sondern um Ihre Motive, sie zu benutzen. Sie sollten ein wenig auf sich aufpassen.“
    „Was könnte mir passieren?“
    Darius ahnte wohl, dass etwas passieren könnte. Die Stimmen aus der Bibliothek hallten noch in seinen Ohren.
    „Ich weiß es nicht. Aber es kam bereits vor, dass Leute verschwanden.“
    Sie waren an einem dichten, schattigen Teil des Hains

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