Die schlafende Stadt
einer unwirtlichen, feindlichen Welt. Die schwarzen Steine stießen ihn ab, das gleißende Mondlicht erschreckte ihn. Die morbide Architektur widerte ihn plötzlich an.
„Tod!“ murmelte er.
Wohin er auch sah, auf einmal zeigte alles Anzeichen von Krankheit und Verfall. Sein Observatorium glich mehr einer bröckelnden Ruine als einem strahlenden Hort der Forschung. Er dachte an die vermoderten Leitern der Bibliothek, die verwesenden Bücher. Noch nie war ihm dies so deutlich geworden.
War alles bisher eine Illusion gewesen?
Dann erinnerte er sich wieder an die schöne, schlanke Gestalt mit den strahlenden grünen Augen. Was auch immer war, sie war Wirklichkeit. Der Gedanke wandelte sein angstvolles Zittern in ein erregtes Prickeln. Wie auch immer, seine neue Wachheit eröffnete auch neue Möglichkeiten. Eine grimmige Entschlossenheit breitete sich aus, die sich erheblich besser anfühlte, als die ohnmächtige Angst.
Seine Hand fuhr in die Innentasche seines Gehrockes. Ein kleiner Zettel war darin. Uriels Zettel. Er hatte darauf kurz notiert:
„Valdemars Schlund“ war eine enge, längere Straße in Hafennähe. Bei nächster Gelegenheit also würde er Uriel dort bei dem Haus Nr. 18 im dritten Stock antreffen. Zur Sicherheit riss er den Zettel in viele kleine Stückchen und blies sie über die Brüstung.
Der Geschmack des Todes
ist auf meiner Zunge,
ich fühle etwas,
das nicht von dieser Welt ist.
Wolfgang Amadeus MOZART
S chwester Rosi marschierte stramm und entschlossen durch den langen Flur der Intensivstation – ihrer Station, ihrem Reich, das sie seit über neun Jahren befehligte. Sie war für jeden Pfleger, jede Krankenschwester eine furchteinflößende Person – fast ein Meter neunzig, grobknochig, mit riesengroßen Händen und ebensolchen Füßen, sehnigen, muskulösen Armen und einem breiten, knochigen Schädel. Ihre tiefliegenden, stahlblauen Augen brachten jeden Widerspruch zum sofortigen Erliegen, und wenn dies nicht bereits reichte, besorgte ihre nikotingeschwärzte, harte Stimme den Rest. Seit jenem Tag vor über dreißig Jahren, als sie ihren prügelnden, stets alkoholisierten Vater mit ein paar kräftigen Schlägen in die Magengrube, einem Tritt in die Hoden und einem krachenden Schwinger zwischen die Kiefer die Treppe ihres Elternhauses und damit für immer aus ihrem Leben herausbefördert hatte, hatte niemand mehr gewagt, Hand an sie zu legen; seit diesem Tag war die Zeit der Gewalt endgültig vorbei, für sie, für ihre jüngere Schwester und auch ihre schwache, tablettensüchtige Mutter. Seitdem war auch nie wieder ein Mann in ihr Leben getreten. Auch jetzt, mit siebenundvierzig Jahren, legte sie nicht den geringsten Wert darauf. Männer waren für sie grundsätzlich gewaltbereite, haltlose Existenzen, für die sie – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nur Verachtung empfand. Mit einer dieser Ausnahmen arbeitete sie zusammen – Dr. Schnabel, einer selten anzutreffenden Kombination aus berufenem Helfer und präzisem Wissenschaftler, der noch dazu ein guter Handwerker war. Er operierte geschickt und schnell, und verzieh sich, genau wie sie, keinen Fehler. Er war auch der einzige, von dem sie sich etwas sagen ließ. Ansonsten gab es kaum jemand, der soviel Kompetenz und vor allem Mitgefühl hatte, das sie ähnlich beeindruckt hätte wie der Chefarzt. Anteilnahme und Wärme waren ihr nämlich keineswegs fremd. Hin und wieder war sie von der ein oder anderen Patientin derart angerührt und bedrückt gewesen, dass sie bereits mehrmals ernsthaft erwogen hatte, den Beruf oder zumindest die Station zu wechseln. Manchmal ging es ihr richtig schlecht bei all diesem Leid, all diesem Tod. Aber wer sollte diese Arbeit denn sonst so ausfüllen wie sie?
Heute staute sich einmal wieder eine Mischung aus Wut und Herzensschwere in ihr. Die vergewaltigte, misshandelte junge Frau, die heute Nacht eingeliefert worden war, bestätigte wieder einmal die dunkelsten Abgründe männlicher Primitivität. Die Wiederbelebung war wie durch ein Wunder erfolgreich gewesen, körperlich würde alles wieder ausheilen. Die Spuren der Angst und der Demütigung würden vielleicht nie verwehen. Grimmig öffnete sie die Tür zum nächsten Krankenzimmer.
Das Licht schmerzte in Lenis Augen. Nur langsam erkannte sie, dass sie in einem Bett lag. In ihrem Kopf war es ganz dumpf und schwer, aber dennoch spürte sie, dass etwas Unangenehmes, Schmerzhaftes in ihr und um sie herum war, in das sie nicht zurückkehren wollte.
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