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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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Gang einzuprägen. Als er in Richtung Außenmauer gegen die Deckenwölbung blickte, sah er im Zwielicht eine reichverzierte Stuckleiste mit dem Portrait eines bärtigen Mannes in der Mitte. Dessen geöffneter Mund war das Guckloch, durch das man so gut in die Bibliotheksgänge schauen konnte. ‚Gut getarnt!’ dachte Darius. Er ging wieder in Richtung Brüstung.
    Der Bibliothekar saß immer noch an seinem Platz und war ganz in einen Bildband vertieft. Darius schritt betont langsam die Treppen hinunter und ging auf ihn zu.
    „Ich würde mir gerne ein Buch entleihen.“
    Der Bibliothekar reagierte erst gar nicht. Nachdem Darius seine Bitte ein weiteres Mal vorgetragen hatte, hob er langsam seinen Kopf. „Was, bitte, wünschten Sie?“ fragte er verwirrt.
    „Entleihen! Ich möchte gerne wissen, wie man hier Bücher entleiht. Geben Sie hier Lesekarten aus?“
    „Ah!“ Der Bibliothekar runzelte die Stirn und schien angestrengt über etwas nachzudenken. Plötzlich sah er Darius direkt an.
    „Junger Mann, wir sind hier eine reine Präsenzbibliothek! Wir verleihen keine Bücher! Nur mit besonderer Genehmigung.“
    „Und wer erteilt mir diese Genehmigung?“
    „Hah!“ der Bibliothekar öffnete und schloss einige Male seinen Mund, als habe er etwas zu kauen. Dann sagte er: „Genehmigungen erhalten Normalbürger nicht. Das Privileg des Entleihens von Schriften steht ausschließlich den Ordensmitgliedern zu. Sie sind doch Ordensmitglied?“
    Darius war sprachlos. Zunächst erfasste er gar nicht, was ihm der Bibliothekar da gerade mitgeteilt hatte. „Was für einen Orden meinen Sie?“ fragte er schließlich.
    Der Bibliothekar starrte ihn an. Er sah plötzlich bestürzt aus, erschrocken vor etwas.
    „Wir verleihen hier keine Bücher. Wir sind eine reine Präsenzbibliothek. Tut mir leid.“ sagte er dann.
    „Aber welchen Orden meinen Sie? Von was haben Sie gerade gesprochen?“
    „Junger Mann“, sagte der Bibliothekar nun etwas gereizt, „ich habe wahrhaftig anderes zu tun, als ständig Ihre Fragen zu beantworten. Wenn Sie ein bestimmtes Buch suchen, suchen Sie im Katalog. Dort, schräg gegenüber. Mit mehr kann ich nicht dienen.“
    Darius nickt stumm. Unfreiwillig war er jetzt doch mehr aufgefallen, als er wollte. Wortlos wandte er sich ab. Er ging in Richtung Katalog, ein großes schrankartiges Gebilde mit tausenden von Schubladen, angeordnet wie ein großer Würfel. Wahllos zog er eine der Schubladen heraus. Alle Karteikarten waren in der Alten Sprache beschriftet. Ärgerlich stellte er fest, dass auch alle Schubladen dieser Seite die fremden Bezeichnungen trugen. Er ging ein paar Meter weiter und fand endlich die in lateinischen Lettern beschrifteten Abschnitte. Er zog die Schublade mit der Aufschrift „Ki-Kr“, auf. Killywell, Audomar . Wie er es vermutet hatte, war das Buch nicht verzettelt. Der Name war nirgends zu finden. Hier war alles eine Farce. Umso besser. Jetzt befand sich das Buch ohnehin in seiner Tasche. Niemand würde den Verlust bemerken.

    Als sich Darius dem heimatlichen Observatorium näherte, beschlich ihn eine leise Angst. Was sollte er Beda erzählen? Normalerweise hätte er ihm jedes Detail berichtet. Aber eine innere Stimme sagte ihm, dass es weiser sei, über seine Erlebnisse in der Höhle und vor allem in der Bibliothek zu schweigen.
    Eigenartigerweise stellte Beda keine einzige Frage über Darius‘ Ausbleiben. Er kehrte ohnehin erst kurz vor Einbruch der Morgendämmerung zurück, machte lediglich ein paar launige Bemerkungen über den Pferdekopfnebel, dessen aktuell ungewöhnliche Deutlichkeit ihm durch das noch nicht intakte Teleskop nun entgehe, und begab sich zu Bett. Darius zog es die folgenden Tage vor, unauffällig zu bleiben. Er ließ sich beim Studieren alter Sternenkarten sehen, obgleich er keinen Gedanken auf sie konzentrierte. Dann kam wieder eine Andacht im Tempel, der Beda diesmal auch wieder beiwohnte. Darius ertrug alles mit stoischer äußerer Ruhe, machte aber insgeheim seine Beobachtungen. Stärker als sonst vermochte er, die Gesichter der Anwesenden zu registrieren und sich einzuprägen. Viele von ihnen vermeinte er, schon unzählige Male gesehen zu haben, aber er kannte keine Namen, noch dass er jemals mit ihnen geredet hätte. Kaum jemand erwiderte seinen Blick. Einige Wenige bemerkten sein Schauen, starrten aber scheu in eine andere Richtung. Eine hagere, alte Frau entgegnete seinem Blick mit einem kurzen, aber eindeutigen Ausdruck von Abscheu, so dass Darius

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