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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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Fremde und sah ihr in die Augen. Nie würde Sophia diesen Anblick vergessen.
    „Aber du musst mich festhalten!“
    „Das werde ich!“ flüsterte Sophia. Doch plötzlich sah sie durch das geliebte und bereits so vertraute Gesicht hindurch. Ihre Hand, die seinen Nacken umschlungen hatte, griff auf einmal ins Leere.
    Sophia schrak auf. Sie war alleine.
    Sie blickte um sich. Niemand war da. Sie spürte nur den sachten, warmen Lufthauch, der aus den geöffneten Fenstern zu ihr drang.
    Ihre Seele war noch immer von Liebe und Leidenschaft erfüllt. Sie sank auf ihr Kissen und schloss die Augen, ließ das eben noch so nahe Gesicht wiedererstehen.
    Darius.
    Sie würde Claudine verlassen, das wusste sie jetzt. Und sie würde ihn suchen, Darius, den, den sie jetzt noch nicht hatte festhalten können.
    Sie würde ihn finden.

Einem Baume mit vielen Zweigen
und wenig Wurzeln gleicht,
der vieles weiß und wenig tut.
Bricht der Sturm herein,
dann beugt er ihn nieder
und wirft ihn um.
Talmud

    E s war wieder Stille eingekehrt in die staubigen, dunklen Gänge der Bibliothek. Darius kauerte bewegungslos auf dem Boden. Eine Weile hatte er sich panisch umgesehen, weil er befürchtet hatte, die Teilnehmer der Zusammenkunft träten auf den Gang und entdeckten ihn. Nach dem vernehmlichen Rücken von Stühlen war aber kein Geräusch mehr zu hören. Vorsichtig begann er wieder, seine verkrampften Glieder zu bewegen. Das Licht in dem Raum hinter den Büchern war gelöscht worden. Als Darius durch den Spalt blickte, konnte er die Einzelheiten nur noch schemenhaft erkennen. Jetzt, da er sicher sein konnte, alleine zu sein, regte sich ein bis dahin unbekanntes, aber in letzter Zeit immer häufiger werdendes Gefühl: Neugierde. Er zog ein Buch nach dem anderen aus dem Regal heraus, bis dass er einen breiten Durchlass in der untersten Zeile geschaffen hatte. Langsam schob er seinen Kopf hindurch und betrachtete die Kammer dahinter. Sie war vollkommen leer, bis auf den Sekretär, den er schon zuvor erspäht hatte, und einem wuchtigen, verstaubten Schrank, der vollkommen übersäht war mit einer schwärzlichen Flechte, die steinhart anmutete. Ansonsten erhellte den Raum ein rundes Fenster, das in die meterdicke Kuppelmauer eingelassen war und beleuchtete die drei Stühle und den klobigen, kleinen Tisch in der Mitte. Wie ein Auge glotzte es in die schmale Kammer. Der erloschene Kandelaber verströmte ein schwaches Aroma von verbranntem Wachs. Darius schob seinen Körper vorwärts und gelangte schließlich vollständig in jenen Raum, wo vor kurzer Zeit erst drei Unbekannte ihre konspirative Sitzung abgehalten hatten. Wie nur hatten sie den Raum verlassen? Nirgendwo gab es eine Tür. Die gegenüberliegende Wand, an der der Sekretär stand, war gemauert und weiß verputzt. Das Portrait, das darüber hing, zeigte einen überaus blassen, blasierten Mann um die dreißig in der Mode des späten 17. Jahrhunderts, mit langer, weißgepuderter Perücke und üppigen Rüschenkragen, seidenem Wams und pelzbesetztem Mantel, dessen beringter Finger auf irgendetwas zu deuten schien.
    Darius stand jetzt aufrecht und untersuchte Wände und Boden nach verborgenen Türen. Die Wand war dick und massiv. Nicht die geringsten Anzeichen von Öffnungen oder Hohlräumen. Die dicken Bodendielen lagen ebenfalls fest. Der Pilzbelag, von dem die meisten befallen waren, zeugte ohnehin davon, dass sie seit langer Zeit unverrückbar und unbetreten dort lagen. Lediglich in der Raummitte, wo Tisch und Stühle standen, war das Holz glatt und blank. Allerdings war der Bereich von dort bis zum Schrank ebenfalls abgelaufener als in Wandnähe. Darius ging zum Schrank und zog an den Griffen. Die Türen öffneten sich lautlos.
    Der Schrank war vollständig leer. Die Rückwand fehlte und die nackte Wand dahinter war zu sehen. Der Blick auf die darin eingelassenen Sprossen bestätigte Darius, dass er auf der richtigen Spur war. Im Boden war ein viereckiges Loch, das in ein schwarzes Nichts hineinführte. Darius zögerte kurz. Eine andere Art von Ausgang als der Weg über die morschen Leitern war ihm durchaus willkommen. Er trat in den Schrank hinein, ergriff die erste Sprosse und rüttelte daran. Sie war fest. Mit dem einen Fuß trat er auf die unterste. Auch sie war fest in der Wand verankert. Der Weg ins Unbekannte konnte beginnen. Darius griff hinter sich und schloss die Schranktür hinter sich. Eine tiefe Schwärze umgab ihn. Selbst seine nachtgewöhnten Augen sahen praktisch nichts. Mit

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