Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
Vom Netzwerk:
angelangt. Sie waren allein. Uriel blieb stehen und sah Darius an.
    „Sie wandeln auf einem abenteuerlichen Weg, Darius. Es ist gefährlich, neugierig zu sein.“
    „Aber ich dachte ...“
    „Es ist noch gefährlicher, zu denken. Sie stören den ... sagen wir: friedlichen Ablauf des Lebens hier. Stellen Sie sich vor, jeder finge an, sich seine eigenen Gedanken zu machen. Welch eine Unruhe entstünde dadurch. Womöglich würde die bestehende Ordnung gefährdet.“
    „Und Sie?“ fragte Darius.
    „Ich? Ich bin ganz träge und langsam. Mir fällt nichts auf. Mein Geist ist dumpf und vernebelt. Kein Gefühl durchwühlt meine Seele. Alles ist gut.“ Seine Augenlider wurden dabei schlaff, seine Stimme wurde brüchig und monoton. Kraftlos ließ er die Schultern hängen. „Verstehen Sie?“
    Darius nickte. „Ich bin auch ganz träge und dumpf“, sagte er lahm.
    „So ist es recht. Und Sie besuchen die Andachten.“
    „Ich besuche die Andachten und höre die Weisheit aus den Kaddharsiaden.“
    „Und Sie glauben diese Weisheit, ohne sie in Frage zu stellen.“
    „Ich glaube diese Weisheit, ohne sie in Frage zu stellen.“
    „Sehr gut. Gehen wir zurück. Schön langsam natürlich. Wir sind ja beide so träge. Und Neugier ist uns ja völlig fremd.“
    „Völlig.“
    Bedächtig schritten sie wieder auf die Straße. Einige wenige Passanten säumten ihren Weg.
    „Einen schönen Beruf haben Sie“, sagte Uriel vernehmlich. „Es muss sehr erfüllend sein, sich den Sternen widmen zu dürfen.“
    „Das ist es. Ich möchte es gar nicht anders haben.“

    Darius grübelte stundenlang über die Begebenheit nach. Fest stand: es gab etwas hier in der Stadt, dass ihm früher niemals aufgefallen war. Ob sich etwas verändert hatte? Oder hatte er selbst sich verändert? Nebenher schien er der Einzige zu sein, dem etwas auffiel. Beda zeigte keinerlei Absonderlichkeiten; dessen einsame Streifzüge hatte es immer schon gegeben. Jetzt waren sie häufiger, aber zurzeit war das Teleskop ja auch noch nicht einsatzfähig. Der unendliche Kreislauf des Daseins war aber gestört – seit jenem Ereignis im Tempel.
    Darius rekapitulierte nochmals die Ereignisse: Zunächst der fette, röchelnde Mann und seine widerwärtige Behandlung durch die kuttengewandeten Schergen. Immer wieder hatte er sie seither gesehen. Nur: Waren sie neu in Erscheinung getreten oder war er ihrer bisher nur nicht gewahr geworden? Eindeutig war jedenfalls, dass seine übliche Schwere und Benommenheit merklich abgenommen hatte. Er musste sich mittlerweile Mühe geben, die Langsamkeit und Trägheit aller anderen zu Eigen zu machen, und eine innere Stimme sagte ihm, dass er gut daran tat – und Uriel.
    Er fragte sich, warum er Uriel mehr vertraute als seinem Freund und Vertrauten Beda. Uriel war der Erste und Einzige, der seine neue Art der Wahrnehmung bestätigt hatte – mit nur wenigen Worten. Beda hatte sie, mit ebenso wenigen Worten, abgetan und alles auf Hirngespinste oder Fieber geschoben. Aber die Stimmen in der Bibliothek hatten doch bestätigt, dass seine Wahrnehmungen richtig waren! Die rote Katze. Die grünen Augen ... ach!
    Darius stellte fest, dass er über einen Verbündeten ungemein erfreut war. Einen „Bruder“! Was mochte Uriel noch wissen? Mit wem noch konnte er seine Erkenntnisse teilen? Und warum durfte niemand etwas merken?
    Sorgen bereitete ihm aber doch sein fiebriges Erlebnis mit den wachsenden Gebäuden und den bedrohlichen Gassen. Die stieren, gierigen Augen des Steinernen Wächters verfolgten ihn noch immer. Doch auch dieses Gefühl der Angst war so intensiv, wie er es zuvor nicht gekannt hatte. Wie hatte Uriel dies genannt ... „wach“? Wenn diese Entwicklung etwas mit Erwachen zu tun hatte, so hatte er also bisher geschlafen? Schliefen alle anderen, außer ihm? Sogar Beda?
    Er blickte hinaus in die Nacht. Wieder war es sternenklar. Die Mondsichel hing noch dicht über dem Horizont, groß und fahl. Unruhig spähte er auf die monumentale Kulisse jener Stadt, die ihm so lange vertraut und ein Zuhause gewesen war. Jetzt lauerte etwas Bedrohliches, Gefährliches unter der prachtvollen Oberfläche, das ihm Angst machte. Ein ansonsten tief schlummernder Teil in ihm gestand sich ein, dass diese Angst bereits alt war, so alt wie das Sein im Hier und Jetzt.
    Eine ungewohnte körperliche Reaktion setzte ein. Ein Zittern erfüllte Darius’ Körper. Leicht, aber vehement, ohne Möglichkeiten, es abzustellen. Er fühlte sich allein, verloren in

Weitere Kostenlose Bücher