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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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seinem Fuß ertastete er die nächstuntere Sprosse und stieg so tiefer und tiefer. Bald umgab seinen Körper die Enge des viereckigen Loches, das eine Länge hatte wie ein Kamin. Sprosse um Sprosse ging es abwärts.
    Plötzlich trat er ins Leere. Keine Sprosse, keine Wand, gar nichts! Angstvoll versuchte er, mit dem Fuß etwas Festes zu ertasten. Schließlich stellte er fest, dass die Wand abrupt nach hinten zurückwich, der Kamin also eine Biegung machte. Er krümmte sich, um der Biegung folgen zu können. Vorsichtig ließ er sich weiter hinunter. Seine Arme, die jetzt alleine seinen Körper trugen, schmerzten aufgrund der ungewohnten Belastung. Tatsächlich fand sein Fuß in einiger Entfernung wieder eine Sprosse. Rasch glitt er weiter in die Tiefe.
    Augenblicklich wurde es geringfügig heller. Rechts und links von ihm wichen die engen Wände zurück und bildeten stattdessen zu beiden Seiten einen langen, seitlich gekrümmten Gang. Unten schloss sich eine weitere Öffnung an, die zu einer noch tieferen Ebene führte.
    Darius stieg noch zahlreiche Sprossen hinab, bis er sich dem Boden näherte. Die Höhe des Ganges entsprach ungefähr einem Stockwerk der Bibliothek. Womöglich war also die gesamte Außenmauer des Gebäudes hohl und beherbergte Gänge wie diesen.
    Er entschloss sich, zunächst den Gang zu nehmen. Die tieferen Etagen würde er später erkunden. Er spreizte sein Bein seitlich ab und fand sicheren Grund. Unregelmäßig und ausgetreten fühlte es sich an, besonders in der Mitte. Langsam pirschte er sich vorwärts. Immerhin konnte er wieder soviel sehen, dass ihm ein Loch im Boden aufgefallen wäre. Die Unregelmäßigkeit des Bodens barg aber noch immer die Gefahr des Stolperns.
    Nach vielen vorsichtigen Schritten näherte er sich einem ovalen Lichtschein an der Mauer. Er rührte her von einem kleinen, runden Loch an der Wand zum Bibliothekssaal, durch das ein Lichtstrahl leicht von unten nach innen fiel. Darius sah hindurch. Aus leichter Höhe von etwa zwei Metern sah er in einen Bibliotheksgang, der zu beiden Seiten von mit Büchern vollgestellten Regalen begrenzt war und der direkt auf die Mitte des Gebäudes führte. Deutlich erkannte er an seinem Ende die Brüstung mit jenem Geländer, von dem aus die Leitern nach oben führten. Jetzt brauchte er nur noch einen Ausgang zu finden, und er würde wieder als ganz harmloser Besucher die Bibliothek durch die Halle verlassen können.
    Beim Weitergehen stellte er fest, dass die Gucklöcher jetzt regelmäßig vorhanden waren. Offenbar konnte man, wenn man in die Geheimnisse der Bibliothek eingeweiht war, jeden Besucher unbemerkt beobachten. Der Gedanke erfüllte ihn mit Unruhe. Ob er ebenfalls beobachtet worden war? Dann müsste sein Verschwinden in das unzugängliche obere Stockwerk aufgefallen sein. Aber dann müsste hier der ein oder andere Beobachter anzutreffen sein. Oder es gab nichts mehr zu tun?
    Nein. Ein Blick durch das nächste Guckloch zeigte aber, dass sich mittlerweile noch andere spärliche Besucher eingefunden hatten. Ein beleibter Mann mit Zylinder und dicker Uhrkette an seiner Weste blätterte in einem winzigen Büchlein. Weiter hinten in Brüstungsnähe war eine große, dünne Frau undefinierbaren Alters gerade dabei, mühsam ein großformatiges Buch aus dem Regal zu ziehen. Mehrere Gänge weiter war noch ein gebeugter alter Herr zu sehen, der seinen Zwicker dicht an die Buchrücken hielt, um mit zusammengekniffenen Augen die Inschriften zu entziffern.
    Schließlich stieß Darius tatsächlich auf eine Tür mit Rundbogen, die wieder ins Innere führte. Sie schwang lautlos auf. Darius trat zwischen zwei Regale, die so zusammengestellt waren, dass sie einen schmalen Gang bildeten. Eine Holztäfelung in Regalhöhe beschloss den Gang. Darius schlich bis ans Ende.
    So sehr er auch suchte, er fand keinen Knauf oder eine andere Vorrichtung, mit der sich etwas öffnen ließ. Er ging wieder in Türnähe und zog ein Buch heraus. Er spähte durch den entstandenen Spalt. Niemand war zu sehen, nichts war zu hören. Er schob eine Anzahl von Büchern vorsichtig nach außen, streckte seinen Kopf hindurch und sah sich um. Da er noch immer niemanden sehen konnte, vergrößerte er die Öffnung, schob sich vollständig hindurch und stellte die Bücher wieder an ihren Platz zurück.
    Jetzt fühlte er sich ruhiger. Nein, er fühlte ein eigenartiges, bisher ungekanntes Gefühl des Triumphes, das er sich erst zaghaft gestatten mochte. Er sah sich um, um sich den

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