Die Schlaflosen
die sich unter ihrem Rock hervorschieben, wie dünn die Finger, wie knochig, sie scheint jedenfalls nicht eine von denen zu sein, die, (falls sie überhaupt zu uns Jammerlappen gehört) ihre Verzweiflung mit Schokolade und Marmeladebrötchen niedermampfen ⦠wenn sie also doch eine von uns ist und nicht eine Spionin, dann gehört sie zu den Kontrollniks. Ja, so sieht sie aus, schon der perfekte Haarschnitt, die akkuraten Fingernägel, das Jackett und die hartleibige Handtasche ⦠wenn sie also eine von uns ist, dann gehört sie zu der Sorte, die alles im Griff haben muss, eine, vor der unsereins einen Heidenrespekt hat ⦠das Gegenteil von Schlampen wie mir ⦠ich kenne diese Sorte Perfektionisten, denn ich bin genau die, auf die sie sich stürzen, wenn sie ein Opfer brauchen, an dem sie sich festkrallen können, um ihm ihr ordentlich organisiertes Unglück entgegenzuschleudern ⦠vor denen kann man sich nur hüten, sie kübeln einem ihr ganzes Innenleben über, man erstickt daran. Der Russe sagt njet, und das sagst du jetzt auch. Mal sehn, ob du unbemerkt aus dem Sessel kommst.
Rottmann
Rottmann kommt zurück von einem Gang durch Park und Nutzgarten, bei dem er alles kurz, aber mit erhöhter Aufmerksamkeit in Augenschein genommen hat. Eine Schärfe der Sicht, mit der er sich gegen sich selbst wappnet, gegen den eigentlichen Wunsch, mit alledem hier doch lieber nichts zu tun haben zu wollen. Er grinst bei der Vorstellung, wie der eine Rottmann den anderen Rottmann behandelt. Wie der vitale, kräftige, klarsichtige Rottmann, der er nach auÃen zu sein scheint, dessen Verstand als âºmesserscharfâ¹ gilt und der nicht nur unter Freunden als Ratgeber gefragt ist, wie also dieser realitätsbereite eine Rottmann auf den anderen, den Schwächling Rottmann einredet. Auf diesen Angstheini, von dem die anderen nichts ahnen, nicht einmal sein Freund Karl, zu dem er eine für seine Verhältnisse waghalsige Offenheit pflegt. Vor allem, wenn sie sich zu zweit treffen, ohne die Frauen, und sich auf eine Weise einander mitteilen, die Rottmann hinterher immer mit der Frage zurücklässt, ob er zu viel riskiert, sich nicht doch lächerlich gemacht hat. Karl ist wirklich ein guter Freund, denkt Rottmann jetzt, aber selbst vor ihm hat er den anderen Rottmann meist verborgen gehalten. Denn davon ist er überzeugt, bei aller Selbstironie, bei allem Verständnis für menschliche Schwächen, eine Freundschaft gelingt am Ende doch nur, wenn die witzbereiten Eskapaden in beschwipstem Zustand in der Gewissheit stattfinden, dass man im Grunde ein stabiler Kerl ist. Jedenfalls tauglich für das allgemein erträgliche Maà von Misserfolg. Wirkliche Versager, so einer wie der geheime Rottmann einer ist, sind in diesen Kreisen nicht anzutreffen und also auch einer Freundschaft nicht zuzumuten. Oder sind sie es doch? Rottmann zieht die Brauen hoch. Der graue, kleine, schlappe, dickliche Rottmann ist eben mein Geheimnis, denkt er, ohne sich des heruntergezogenen linken Mundwinkels bewusst zu sein, des schiefen Lächelns, das ihm genau den Anschein von erotischem Leichtsinn gibt, der gerade den Rottmann ausmacht, der den Frauen so gefällt.
Wäre ich Therapeut, würde ich all meine Patienten mit ihrem versteckten Schwächling in Dialog treten lassen, ja. Und aus dem Lächeln wird ein unterdrücktes Lachen, fast hätte er losgeprustet, vor allem bei dem Gedanken, dass er dann genau zu den Salbadern gehören würde, die er so gerne verspottet. Die mit den selbstgebastelten sogenannten Therapien, die sich als letzte Rettung anpreisen und mit ihren kruden Vereinfachungen der Welt- und Menschensicht in diesem globalen Rattenfängergewerbe unfassbare Erfolge haben. Das ist auch der Grund, weshalb Rottmann einen ausgeprägten Widerwillen bei fast allen Angeboten empfindet, die sichere Heilung von der Schlaflosigkeit versprechen.
Aber die wissenschaftliche Variante, das Schlaflabor eines an der Universität lehrenden Professors der Insomniaforschung, hat ihm genauso wenig gebracht wie die trotz aller Skepsis hie und da unternommenen Versuche, den ersehnten Schlaf über Hypnose oder Meditation oder Energietraining zu erreichen. Lange hatte er Schlaftabletten genommen, mindestens zwanzig Jahre lang, aber irgendwann hörten sie auf zu wirken. Danach kamen unzählige Besuche bei Ãrzten mit verschiedenen Diagnosen, die ihn zu den
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