Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
Kephallion ihr Leben für das Leben ihres Sohnes anzubieten.
» Ich werde gehen«, hatte Menahem ihr angeboten. Doch das hatte sie abgelehnt. »Nein, Menahem. Mich hasst er mehr als dich. Wir alle kennen Kephallion. Er wird nicht zögern, Agrippinos und Gilead zu töten, selbst wenn es die letzte Tat seines Lebens wäre.«
»Und was, wenn Kephallion sich nicht auf den Austausch einlässt? Oder wenn Gilead bereits …« Menahem senkte den Kopf.
Salome wusste, was er meinte. »Dann«, sagte sie, »ist ohnehin alles egal.«
Unter die Leute gemischt, passierte Salome das Tor und ging auf direktem Weg zum Tempel. Die Zeloten hatten ihr Ziel erreicht. Angst stand in den Gesichtern der Menschen, Angst vor der Rache der Römer und Angst vor dem, was ihre eigenen Glaubensbrüder ihnen noch antun könnten. Hineingeraten in den Kampf zwischen Ungläubigen und Radikalen, irrten sie hilflos durch die Straßen. Jeder erbärmliche Winkel, in dem sie sich verstecken konnten, kam ihnen wie ein Gottesgeschenk vor, denn die zelotischen Kämpfer rekrutierten alle Männer, derer sie habhaft werden konnten, und schickten sie auf die Mauern und Zitadellen. Zwölfjährige Knaben wurden ihren Müttern entrissen, sechzigjährige Greise ihren Frauen. Unbeschnittene hingen stranguliert an Häuserwänden, Wucherer und Monopolhändler wurden nackt zur Schau gestellt. Das also sollte sie sein, die große Stunde Judäas, dachte Salome bitter. Hemmungslose Strenge, Tränen, fliehende Menschen, ermordete Menschen, Menschen voller Zorn und blindem Hass, Menschen, die kalt bis ans Herz geworden waren, Menschen, die den tief verwurzelten Willen der Juden nach Freiheit und Frieden ins Irrwitzige übersteigert hatten und durch Krieg und Mord verwirklichen wollten. Es war kaum zu glauben, dass diese Apokalypse einst mit dem lächerlichen, abgeschlagenen Flügel eines Bronzeadlers so unscheinbar angefangen hatte.
Salome kam unbehelligt im Vorhof des Tempels an, wo die Zeloten ihr Hauptquartier errichtet hatten. Weil sie nicht wusste, an wen sie sich wenden sollte, ging sie auf den nächstbesten Bewaffneten zu und sagte: »Ich bin Salome, Prinzessin von Judäa. Und ich bin sicher, euer Anführer Kephallion möchte mich sofort sehen.«
31
»Ist das nicht ein Witz?« Kephallion saß inmitten des ehemaligen Versammlungssaales des Sanhedrin , gleich neben dem Tempel, und beschäftigte sich mit dem Schärfen eines Krummschwertes. Hinter und neben seinem Schemel standen mehrere menorot und warfen ihr gleichmäßiges Licht auf ihn. Begleitet von zwei Wächtern, war Salome zu ihm gebracht worden und hatte erklärt, warum sie sich ihm ergeben habe.
»Genau in diesem Raum«, raunte er, »standest du schon einmal unter Anklage. Der Unterschied ist nur, dass du damals davongekommen bist. Heute wirst du das nicht.«
»Das habe ich auch nicht erwartet«, erwiderte Salome mit erhobenem Kopf.
»Hättest du das je gedacht? Ich als dein Richter?«
Sie antwortete nicht.
»Für mich jedenfalls geht ein Traum in Erfüllung«, bekannte er. »Schade ist nur, dass ich so lange darauf warten musste. Wir waren noch Kinder, da sehnte ich mich danach, dir einen Dolch an den Hals zu halten und zuzustoßen.«
Er stand auf und ging langsam auf sie zu. Als er nur noch zwei Schritte von ihr entfernt war, streckte er seinen Arm aus und drückte ihr die Spitze seines Schwertes an die Kehle. Salome zuckte zusammen und spürte, wie ein Rinnsal aus Blut über ihre Brust floss. »Ja«, flüsterte er, »das Warten hat sich gelohnt.«
»Du bist ein …« Im letzten Moment besann sie sich auf ihr Ziel. Kephallion in Rage zu bringen, würde ihr nichts nützen, im Gegenteil.
Er lachte. »So wortkarg heute? Ach ja, dein Bastard. Weißt du, das ist der zweite Witz des Tages. Er steckt in demselben Gefängnis, das auch sein Vater einst bewohnte. Rührend, dass du ihn besuchen wolltest, aber ich fürchte, dafür wird dir die Gelegenheit fehlen.«
»Ich will nur, dass du ihn freilässt. Und Agrippinos auch.«
»Stimmt ja, die beiden sind unverbrüchliche Freunde. Deswegen werden sie von mir auch gleich behandelt. Willst du wissen, wie? Ihre Arme sind gebunden und mit einem Seil nach oben gezogen, so dass ihre Zehenspitzen gerade noch den Boden berühren. Jeden Tag erhalten sie exakt so viele Peitschenhiebe, wie sie Jahre zählen – was natürlich bedeutet, dass der arme Agrippinos ein wenig mehr leiden muss. Und damit sie in dieser erbärmlichen Sommerhitze nicht so schwitzen müssen,
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