Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
sie nur halb so gut kämpfen würden, wie sie predigen, wären wir verloren gewesen. Wie die Hasen sind sie gerannt. Wie die Hasen!«
Aus dem Mann war nichts herauszubekommen. Salome irrte durch die Reihen der Philippianer. Einige lehnten verwundet an Baumstämmen, und vereinzelt beugten sich auch Frauen weinend über ihre toten Männer. Dann sah sie Menahem, der sich auch über einen regungslosen Körper beugte. Sie erkannte die Stiefel ihres Sohnes. Salome erstarrte und presste sich die Hand vor den Mund. »Nein«, rief sie. »Nein, nein, nein.« Sie rannte los, stolperte im Schlamm, stand auf, stolperte erneut. Auf allen vieren kroch sie voran, stieß Menahem zur Seite und blickte in das Gesicht ihres Sohnes, der – sie anlächelte.
»Mutter«, sagte er. »Wir haben gewonnen, Mutter.«
Sie konnte in diesem Moment nur noch weinen. Kraftlos fiel sie neben Gilead in den Schlamm.
»Warum weinst du denn, Mutter?«
»Warum ich …? Ich dachte, du seist …« Sie sprach es nicht aus. »Weißt du«, sagte sie stattdessen und wischte sich die Tränen von den Wangen. »Ich habe hier vor vielen Jahren zusammen mit deinem Vater gelegen.«
»Im Schlamm?«
»Im Schlamm. Und es war einfach herrlich.«
Sie lachten. Salome blickte ihren Sohn und Menahem und Berenike an. »Ich will, dass wir von jetzt an zusammenbleiben«, sagte sie. »Versprochen?«
Berenike und Menahem nickten. Niemandem fiel auf, dass Gilead es nicht tat.
Am nächsten Morgen fand Salome ein Stück Pergament auf dem Bett ihres Sohnes. Darauf stand: »Ich muss Agrippinos helfen.« Und darunter, ganz klein geschrieben, schnell noch hinzugefügt: »Ich liebe dich. Gilead.«
Genau so hatte Kephallion sich den Moment der Rache immer vorgestellt. Lange hatte er darauf warten müssen, doch es hatte sich gelohnt. Beim Anblick des toten Körpers, vor dem er kniete, durchströmte ihn ein ungeheures Glücksgefühl, so als würde die Kraft von Tausenden Kämpfern sich in seiner Brust vereinen. Er besaß nun ungeheure Macht; nicht einmal Herodes hatte je solche Macht besessen. Er war der Herr über Leben und Tod in Judäa. Wen er töten wollte, konnte er töten, ausnahmslos jeden. Seine Anhänger folgten ihm blind. Jede Stadt, die er zwischen Gaza und Bethsaida zerstören wollte, konnte er zerstören, so wie Gott Sodom und Gomorrha zerstört hatte. Heere, die er zerschmettern wollte, konnte er zerschmettern. Er hatte die Römer vernichtet, so wie Gott das Pharaonenheer des großen Ramses vernichtet hatte. Jeder Gegner, der im Befreiungskampf fiel, machte ihn ein Stück stärker und brachte ihn dem Willen und Geist Gottes näher. Wenn die Welt im Blut ertrunken wäre, würde er auf der Woge dieses Blutes in den Himmel aufsteigen. Er war der Messias .
Kephallion erhob sich. »Sadoq ist tot«, verkündete er den Männern, die ihn umstanden. »Der Herr hat seinen Diener abberufen. Er war alt. Zu alt, um uns in diesem Kampf gegen das Böse weiterzuführen. Von nun an übernehme ich seinen Platz.«
Niemand widersprach ihm. Er war seit Jahren der zweite Mann der Zeloten, und selbst wenn ihm jemand die Führung missgönnte, würde er es nicht offen aussprechen. Die vier dunkeläugigen Leibwächter Kephallions, die stets mit einer Hand den Knauf ihres Krummschwerts umklammerten, sahen nicht aus, als würden sie Diskussionen schätzen.
»Ich befehle, dass ihr die Botschaft in alle Richtungen tragt. Von heute an existiert das Reich Gottes auf Erden, rein und untertänig bis zum letzten Stein. Darum müssen alle Ungläubigen auf unserem Boden sterben. Ich befehle, alle Griechen Jerusalems zu töten, alle Araber, Römer und sonstigen Gottesleugner.«
»Damit wird der Hohepriester nicht einverstanden sein«, gab einer der Leute zu bedenken.
»So tötet auch ihn.«
Die Männer erschraken. Den höchsten Vertreter ihres Glaubens zu ermorden, das war selbst für sie, die sonst nicht zimperlich waren, lästerlich.
»Weiterhin werdet ihr die Führer der scheinheiligen Pharisäer töten, allen voran Matthias, außerdem die eitlen sadduzäischen Priester. Den Sanhedrin erkläre ich für abgeschafft, und den Tempeldienst übernehmen nun Männer von uns, die vorher geweiht werden, wie der Brauch es vorschreibt. Ich selbst werde einige Räume des Tempels beziehen.«
Das war viel auf einmal. »Vielleicht«, sagte der mutigste der Männer, »solltest du dich mehr der militärischen Lage widmen als den Hinrichtungen. Unser Angriff auf Philippi ist gescheitert, und von Norden
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