Die Schluesseltraegerin - Roman
nur allzu deutlich, indem sie nämlich keine Hemmungen hatten, ihr bisheriges Verhalten Inga gegenüber grundlegend zu ändern. Noch gestern katzenfreundlich und nahezu unangenehm anschmiegsam, begegneten sie nun der verwitweten Schwägerin mit Verachtung, tuschelten halblaut und merklich über sie, gaben einsilbige Antworten auf höfliche Fragen Ingas und sahen sie immer wieder abschätzig von oben bis unten an.
Es war schon unangenehm gewesen, mit ihnen zusammenzusitzen, als sie sich noch darin überschlagen hatten, Inga Komplimente zu machen und ihre falsche Zuneigung zum Ausdruck zu bringen, indem sie schlecht über Ada und das Friedel Uta sprachen. Nun aber war es nicht nur unangenehm, sondern unerträglich, auf so engem Raum mit zwei solch missgünstigen Weibern zu sitzen.
Inga war froh, als die Tür aufging und Ansgar hereinkam. Im Vergleich zu seinen Schwestern war er das geringere Übel und sein Anblick regelrecht eine Erleichterung.
»Inga, komm ins Haus. Es wird Zeit, dass du Ada die Schlüssel überreichst«, sprach er düster, ohne ihr dabei in die Augen zu blicken.
Diese Worte waren zu erwarten gewesen, dennoch waren sie für Inga wie ein herber Schlag. Das hämische Gackern der Zwillinge im Ohr, folgte sie ihrem Schwager über den Hof ins Haupthaus.
II
Z wei Wochen waren nun seit dem Tod Rothgers vergangen, und für die kinderlose Witwe Inga hatte ein neues Leben begonnen. Sie wurde weiterhin auf dem Hof geduldet, ihre Aufgaben waren fest umrissen, und auch wenn die Arbeit im Grunde die gleiche blieb, so war es vornehmlich ihr Status, ihr Ansehen, welches sie mit einem Male eingebüßt hatte. Sie war nicht mehr Herrin des Hauses, ihr oblag nicht mehr die Ordnung der Hofführung, sie war nicht mehr weisungsbefugt, sondern musste nun Anweisungen annehmen. Unter anderem die, sich allein um die Schafe, die Ziegen und den alten Ulrich zu kümmern.
Ulrich war der ältere Bruder des alten, längst verstorbenen Hilger und somit der eigentliche Erbe des kleinen Anwesens im Tal gewesen, welches die Familie über mehr als hundert Jahre bewirtschaftet hatte. Aber Ulrich war von Geburt an verkrüppelt, und somit war das Erbe auf den verwegenen Hilger übergegangen, der dieses alsbald gegen das unwirtliche, sumpfige Waldgebiet eintauschte, auf dem sich nun der Hilgerhof mitsamt seinen urbar gemachten Feldern und Wiesen erstreckte.
Ulrich hatte das Unglück erfahren, dass an ihm bei der Geburt so unglücklich gerissen und gezerrt worden war, dass er zeit seines Lebens lahmte und unter einem krummen Rücken litt. Diese Behinderung war schon früh erkennbar gewesen, sodass sich sein Vater, Rothger der Alte, geweigert hatte, dem Erstgeborenen den ihm gebührenden Großvaternamen zu geben.
So wurde er Ulrich genannt, und man hoffte inständig auf die Gnade der Götter, dass der Familie zu einem zweiten, gesunden Sohn verholfen wurde. Dieser Wunsch ging schließlich mit der Geburt von Hilger wenige Jahre später in Erfüllung.
Doch während dieser bereits unter der Erde ruhte, erfreute sich der ältere Bruder Ulrich nach wie vor des Lebens. Zwar brachte er die meiste Zeit im Hause zu und war deshalb auch als »Ulrich der Aschensitzer« bekannt, doch noch nie hatte er ernsthafte Zipperlein oder Gebrechen gehabt, geschweige denn eine schwerwiegende Krankheit. Dennoch musste er versorgt werden, selber konnte er sich nicht aufrichten und sich nur mühselig fortbewegen. Um sein Geschäft zu verrichten, sich zu waschen oder sein Schlaflager aufzusuchen, benötigte er Hilfe, und diese Hilfe sollte ihm fortan nicht mehr Ada, sondern Inga leisten.
Inga mochte den Alten. Auch als Herrin des Frilingshofes hatte sie hart arbeiten und unangenehme Aufgaben erledigen müssen. Einem Greis bei seinen alltäglichen Verrichtungen zur Seite zu stehen, war ihr kein Graus. Aber die Demütigung, die sie empfunden hatte, Ada im Beisein Ansgars die Schlüssel auszuhändigen, diese Demütigung lastete schwer auf ihrer Seele – schwerer noch als die Schmach, welche sie seit dem Tage hatte ertragen müssen, als Rothger die andere Frau nach Hause gebracht hatte.
Mit den Schlüsseln hatte sie nun alles gegeben, ihr ganzes Dasein, ihre Freiheit, ihr Leben. Nie wieder würde sie sein können, was sie einst war. Sie war die Schlüsselträgerin gewesen. Sie hatte über den Schatz der Familie geherrscht, hatte ihn bewahrt und mit dieser Funktion den Fortbestand des Stolzes und des Selbstbewusstseins einer noch jungen, aber erfolgreichen
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