Die Schluesseltraegerin - Roman
sächsischen Frilingssippe gesichert.
Das waren die Schlüssel zu dem Speicher und den beiden
Truhen, in denen alle Dinge von Wert verstaut waren: Darin lagen goldene und silberne Gürtelschnallen und Fibeln; darin lag ein Säckchen mit Silberdenaren, das gesamte Münzgeld der Familie; darin lag auch das abgebrochene Schwert des alten Hilger, mit dem er am Süntelgebirge so tapfer, aber dennoch vergeblich gegen die Franken gekämpft hatte. Darin lagen die Runenstäbe, die sie schon längst hätten verbrennen sollen, die aber dennoch immer wieder nützlich waren, um mit ihnen das Schicksal zu befragen. Darin lagen die vielen, vielen Holzfiguren, Abbilder ihrer Ahnen, die für Fruchtbarkeit, Gesundheit, Glück und Wohlstand sorgen sollten – und darin lag auch die Holztafel, welche Inga selbst angefertigt und auf der sie mit Hilfe von Runen und Strichen die genaue Anzahl der Abgaben geritzt hatte, welche die Familie als Zehnten der Kirche zu entrichten hatte.
Es war die einzige Steuer für die Freien, aber dennoch schmerzte es sie sehr. Und obwohl sie sie nun seit mehr als dreißig Jahren zahlten, war es gegen die Ehre eines jeden der Hilgerschen Hausherren gewesen, sich um diese verfluchte Abgabe im Einzelnen zu kümmern. Immer stand es der Frau zu, die vielen Zahlen und Waren im Kopf zu behalten, die es jedes Jahr zu bestimmten, vom Grafen und jüngst vom Kloster festgesetzten Terminen zur Zehntscheune in den nahen Ort zu bringen galt. Und oft hatte es Ärger gegeben, denn die Meier, die Eintreiber der Steuer, wussten genau, wie viel ein jeder Freie und Höriger abzuliefern hatte, sie hatten Listen, auf denen alles akribisch verzeichnet war. Die Bauern selbst mussten sich auf ihr Gedächtnis verlassen, und weil stets neue Prüfungen anstanden, Abgesandte des Bistums oder der Klöster an die Tür klopften und Fragen zu den neuen Erträgen stellten, die Vorräte, das Vieh und die Felder in Augenschein nahmen, um den Zehnten neu festzusetzen – weil dies so war, war es kaum
jemandem möglich, gerade bei einer Größe des Hilgerschen Hofes, alle Abgaben genau im Gedächtnis zu behalten. Denn schreiben konnte niemand von ihnen.
Und in drei Tagen war es wieder so weit: Der gesamte Getreidezehnte, Federvieh und Eier mussten verladen und fortgefahren werden. Inga wusste das, und auch Ansgar war darüber von seinen Nachbarn in Kenntnis gesetzt worden. Doch so sehr er sich auch bemühte, ihm wollte nicht mehr in den Kopf, wie viel des Hafers, wie viel der Gerste, wie viele Gänse sie abzugeben hatten.
Mussten auch Federn abgeliefert werden oder Fett?
Was war mit Brennholz?
Zu stolz war er, Liudolf um Rat zu fragen, zu stolz aber auch, Inga zu bitten.
Krieger war er bislang gewesen, Ansgar, zweiter Sohn des Hilger. Die meiste Zeit hatte er auf Feldzügen verbracht, dem Grafen war er ins Heer gefolgt, und mit diesem auch manches Mal dem Kaiser. Als Freier war dies seine Pflicht, er war Waffenträger und die Gefolgschaft eine Frage der Ehre. Und da Hilger drei gesunde Söhne großgezogen hatte und zudem über genügend Land verfügte, um sie alle ein Leben lang zu versorgen, waren Rothger und Ansgar mit dem Grafen übereingekommen, dass nur einer aus der Sippe Kriegsdienste ableisten musste – nur einer, aber dafür jedes Mal, wenn der Graf Fehden im Umland bekämpfen, einfallende Räuberbanden vertreiben oder dem Kaiser Krieger stellen musste. Der Graf, ein durchaus ehrenhafter, aber wenig ehrgeiziger Mann, dem der Weg des geringsten Widerstandes lieber war als der Kampf, war auf dieses Angebot eingegangen. Ein edles Fohlen aus dem Stall des Hilger hatte es gekostet, mehr nicht. Und damit hatte man ohne Worte auch Gernot, den jüngsten Bruder, ausgelöst.
Ansgar hatte der Heeresdienst behagt. Er hatte nie nach dem
Warum, Wohin und Für-wen gefragt. Die Freiheit, da machte er sich keinerlei Illusionen, hatte sein Volk schon längst eingebüßt, hehre Ziele gab es nicht mehr zu verfolgen. Er kämpfte nun für den Frankenkaiser, und diesen liebte er nicht, aber solange er dem Grafen, dem Edlen aus dem Augau, folgte, blieb seine Ehre unangetastet. Aus diesem Grunde dachte er nur wenig darüber nach, ob es dieser Graf wert war, ihn als Heerführer anzuerkennen. Stark war er nicht, viel zu nachgiebig, hatte sich von den Franken zum Grafen machen und sich nach wenigen Jahren diese Macht wieder nehmen lassen – dann nämlich, als es dem Kaiser beliebte, anstelle der Grafschaftsverwaltung die Mönche zu setzen. Doch das hatte
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