Die Schluesseltraegerin - Roman
den Grafen nicht bekümmert. Land hatte er dem Kloster sogar zur Verfügung gestellt, seine Ruhe wollte er haben, und er schien sogar erleichtert, großer Teile seiner Verantwortung verlustig gegangen zu sein.
Hätte er alle Edlen und Freien der Gegend aufgerufen, den fremden Eindringlingen Widerstand zu leisten, die Mönche zu lynchen, ihre Klostermauern zu schleifen – Ansgar wäre erwacht und mit Freude in den Kampf gezogen. Doch solche Kämpfe wie zu Zeiten des Hilger gab es nicht mehr, nicht, seitdem Widukind zu Kreuze gekrochen war und sich von den Franken in ein Kloster hatte sperren lassen. Nun war die Freiheit, die es zu verteidigen galt, nicht mehr die Freiheit eines Stammes, sondern die Freiheit einer Familie, seiner Familie. Und aus diesem Grund musste nun auch Ansgar für immer zurück auf den Hof, zurück zu seiner Frau, seinen Kindern, seiner Sippe. Nun konnte er nicht mehr in den Kampf fliehen, mit den anderen Kriegern durch die Lande streifen, sich an den Waffen üben. Seine Waffen waren nun Pflug und Sichel, er war jetzt Herr im Hause, Oberhaupt des Hofes seines Vaters, Nachfolger des geliebten und gleichzeitig verhassten Bruders. Doch von der Landarbeit verstand er nur wenig.
Und aus Ingas Holztafel, von der er wusste und die er sich lange angeschaut hatte, wurde er nicht schlau, und auch die stille Ada konnte sich keinen Reim darauf machen.
»Ich werde Inga fragen«, schlug sie vor.
»Das wirst du nicht«, fuhr er sie barsch an. »Wir kommen ohne sie zurecht. Wenn ich nur wüsste, was das für verfluchte Zeichen sind.«
»J ist die Rune für gute Ernte, dahinter hat sie zwei Striche gemacht«, versuchte Ada ihren immer aufbrausender werdenden Mann zu beruhigen.
»Dumm bin ich nicht. Aber was heißt schon ›gute Ernte‹? Hafer, Roggen, Gerste? Und die Striche? Zwei sind es, natürlich. Gut, dass du es mir sagst, Weib, glaubst wohl, einen Hohlkopf vor dir zu haben. Aber zwei was? Zwei Säcke, zwei Fuder, zwei Hände voll?«
»Du weißt selbst, dass wir in Säcken abliefern.« Noch immer blieb Ada gelassen.
»Getreide in Säcken, das mag sein. Aber Honig oder Butter? In Töpfen, wirst du sagen. Ja, aber nenn mir bitte eines dieser blödsinnigen Zeichen, das für Honig oder Butter stehen könnte.«
Und ohne eine Antwort abzuwarten, schmetterte er die Tafel gegen die Hauswand.
Inga war im Ziegenstall, um zu melken. Belustigt verfolgte sie den Streit zwischen Schwager und Schwägerin, die nicht weit von ihr vor dem Haupthaus standen.
Obwohl sie noch nicht mit ihrer Arbeit fertig war, stand sie auf, nahm einen Eimer voller Milch und trug ihn, die beiden Streitenden nicht beachtend, ungerührt an diesen vorüber, in Richtung des Langhauses.
»Halt«, rief Ansgar.
Inga blieb stehen.
Ada sagte nichts. Nie sprach sie viel, aber auch niemals zeigte sie Scheu oder Schüchternheit. Mit festem Blick, ohne Worte, stand sie dabei, als Ansgar Inga befahl, ihm ihr Hexenrätsel zu entziffern.
»Es ist nicht schwierig«, sagte Inga mit fester Stimme, aber ohne in das wütende Gesicht des Mannes zu blicken.
Dann stellte sie den Eimer ab und hob die in drei Teile zerbrochene Tafel auf, sie hockte sich auf den Boden und legte die Stücke wieder zusammen. Ansgar stand über ihr.
»Von dort wirst du nicht viel erkennen können, Ansgar, und in einem Stück aufheben kann ich die Tafel nicht.«
»Ich will nichts erkennen, sondern wissen, was draufsteht. In den Staub hocken soll ich mich, das hättest du wohl gern.«
Inga hasste ihn.
Er war nicht besser als Rothger, nein, er war sogar schlimmer. Denn Rothger war bei all seiner lauten, ungehobelten und auffahrenden Art wenigstens noch lustig gewesen, immer zu einem Spaß bereit und damit einigermaßen erträglich.
»Nun denn«, antwortete sie, und dann trug sie vor: »Ein Sack Hafer, ein Sack Roggen, ein Sack Wolle, ein Sack Flachs, zwei Töpfe Honig, drei Stangen Wachs, ein Viertelfuder Brennholz, ein Viertelfuder Heu, ein Topf Butter, drei Töpfe Fett, drei Gänse, lebendig, ein Schwein, lebendig, Rauchfleisch von einer halben Kuh oder einem ganzen Schwein, zwei junge Schafe oder ein junges Schaf und eine junge Ziege, ein Bottich mit Bier und zwei Lagen gewobenes Tuch, ungefärbt.«
»Bier?«, fragte er nur.
»Ja, seit dem letzten Jahr auch Bier. Es hat sich herumgesprochen, dass Ada ausgezeichnet Bier zu machen versteht.«
»Ich hoffe, du hast ordentlich hineingespuckt, Frau«, sagte er zu Ada, ohne sie dabei anzuschauen, lediglich den Kopf
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