Die Schluesseltraegerin - Roman
drehte er leicht nach hinten.
»Alles zu diesem Zeitpunkt?«, fragte er dann kleinlaut.
»Nein«, antwortete Inga vorsichtig schmunzelnd. »Getreide, Gänse und Brennholz werden jetzt verlangt, hinzu kommen Eier, eine Verordnung des neuen Klosters.«
»Eier? Wie viele?«
»Nicht weniger als zwanzig. Diese Abgabe ist neu und deshalb auf meiner Tafel nicht verzeichnet. Die Eier sind für die Mönche gedacht. Stattdessen müssen wir weniger Honig geben. Sie erhalten ihn in besserer Qualität aus dem Frankenland.«
Ansgar brummte.
»Feiste Wohlleber sind das. Ruinieren wollen die uns. Niemals ist das alles nur ein Zehntel von dem, was wir einbringen. Niemals.«
»Du findest fast alles im Speicherhaus. Ich habe dafür gesorgt, dass es dort verstaut ist, den Schlüssel hat Ada ja bereits. Nur die Tiere müssen noch ausgesucht werden.«
»Die dünnsten und gebrechlichsten kriegen die feisten Mönche.« Und böse Beschimpfungen vor sich hinmurmelnd, machte er sich zusammen mit Ada auf zu demjenigen der fünf Grubenhäuser des Hofes, in dem der Speicher untergebracht war.
Inga nahm die drei Holzstücke und steckte sie sich in den Gürtel, dann fasste sie den Milcheimer wieder am Henkel und ging zurück in den Ziegenstall, um weiterzumelken.
Früh brach an diesem Abend die Dunkelheit herein, denn ein ungeheurer Herbststurm kam auf und brachte als Vorboten einen prasselnden Regen, der binnen kurzer Zeit den gesamten Hilgerschen Hof in eine Sumpflandschaft verwandelte. Inga war im Haus und bereitete zusammen mit einer der Mägde das Abendessen, der alte Ulrich schaute ihnen zu und unterhielt die Frauen mit einer seiner üblichen Göttererzählungen.
»Wo bleibt Uta? Sie sollte längst den Erbsenbrei gekocht haben.
« Langsam hatte Inga sich an die Gegenwart der verhassten Geliebten ihres toten Mannes gewöhnt. Denn immerhin erging es ihr im Vergleich zu der schwangeren Uta prächtig. Ein Aufschub bis zur Niederkunft war dieser gewährt worden, mehr nicht. Das Kind würde sie in der Familie lassen dürfen, sie selber musste gehen, sobald sie nach der Geburt wieder auf den Beinen war. Jeden Moment konnte es so weit sein, und mit jeder Stunde wuchs Utas Angst. Mit niemandem sprach sie darüber, denn niemand, nicht einmal die Mägde, sprachen auch nur ein Wort mit ihr. Doch Inga konnte ihre Furcht sehen, sie konnte sie in ihren Augen sehen. Und so sehr sie sich auch dagegen wehrte, kam in ihr ein wenig Mitleid mit dieser Frau auf, die ihr einst den Rang im Hause streitig hatte machen wollen.
Mittlerweile waren alle Bewohner im Langhaus eingetroffen. Ada versorgte ihre jüngeren Kinder, Ansgar und Gernot sprachen über die Abgabe, die ihnen bevorstand, die Schwestern saßen in irgendeiner dunklen Ecke und tuschelten, der alte Ulrich erzählte, die älteren Kinder, unter ihnen die beiden Vollwaisen der Halbschwester Hilda, halfen den Knechten und Mägden im Kuh- und Pferdestall, der direkt mit dem Wohntrakt verbunden war.
Nur Uta fehlte.
»Sie wird doch nicht irgendwo da draußen liegen und ihr Kind bekommen?«, flüsterte die junge Magd Inga zu.
»Das wollen wir nicht hoffen. Es stürmt schlimmer als in den zwölf Raunächten. Jemand muss sie suchen gehen«, antwortete Inga, auch wenn es ihr widerstrebte, sich um den Verbleib dieses Weibes zu kümmern.
»Ulrich«, sagte sie weiter, sich an den Alten wendend. »Die Schwangere ist fort. Kannst du einen der Knechte schicken, sie zu suchen?«
Inga hatte absichtlich leise gesprochen, aber da Ulrich nicht besonders gut hörte, antwortete er umso lauter: »Was sagst du? Die Schwangere ist tot?«
»Sie ist fort, nicht da, weg-ge-lau-fen, ir-gend-wo draußen im Sturm.« Inga sprach langsam, laut und in abgehackten Silben.
»Und was kümmert das ausgerechnet dich?« Ansgar hatte ihr Gespräch belauscht.
»Ich frage mich nur, wo sie ist. Und ganz gleich, was sie auch für ein Weib sein mag: Dem Kind sollte man helfen, oder etwa nicht?« Inga war es unangenehm, dass nun alle die Ohren spitzten, zu ihr hersahen und neugierig darauf warteten, was sie nun unternehmen würde.
»Wir bleiben alle hier. Niemand geht in den Sturm hinaus und riskiert sein Leben für so eine«, befahl Ansgar und sah Inga grimmig an.
Dieses Mal senkte sie nicht den Blick, sondern schaute hasserfüllt zurück.
Wer war dieser Ansgar? Nichts konnte er, nichts verstand er, und plötzlich spielte er sich als der Herr im Hause auf. Inga verabscheute ihn, es widerte sie an, ihm gehorchen, ja ihm
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