Die Schluesseltraegerin - Roman
Zähnen. Sein Atem war faulig, ein Gemisch aus Zwiebeln und verottenden Zahnresten. Es kostete sie ungeheure Überwindung, diesen Kuss zu erwidern, doch sie tat es – sie tat es so lange, bis der richtige Zeitpunkt gekommen
war, um zuzubeißen. Sie biss, so fest sie konnte. Es war ein solch abstoßendes Gefühl, dass sie fast ohnmächtig wurde vor Ekel. Es war, als würde man mit aller Macht seine Zähne in ein altes, rohes Stück Fleisch schlagen. Und dann schoss ihr sein Blut in den Rachen. Inga musste würgen, und Liudolf schrie. Er schrie wie von Sinnen.
Inga übergab sich und spie den roten Fetzen und eine Menge fremden Blutes aus. Hustend kniete sie noch eine Weile da, um zu sich zu kommen, während Liudolf einen Veitstanz aufführte. Mal auf dem einen, dann auf dem anderen Bein hüpfend, lief er im Kreis und hielt sich dabei beide Hände vor den Mund.
Schließlich erhob sich Inga und wandte sich mit den Worten »Sei froh, dass du mir nicht etwas anderes in den Mund gesteckt hast« zum Gehen.
Er hatte es verdient. Eilig, aber nicht rennend, ging sie den Weg am Bachufer zurück, zurück zu der Stelle, an der Liudolf ihr aufgelauert hatte.
Ja, er hatte ihr aufgelauert. Hatte gewusst, dass sie kommen würde, hatte gewusst, dass sie ihr Kirchenasyl verlassen hatte und nun vogelfrei in den Wäldern der Gegend unterwegs war.
Nur: Woher hatte er es wissen können?
Niemand hatte sie gesehen, niemand, außer Ada.
Ada.
Hatte sie es ihm gesagt?
Was führten Ada und das Sippenoberhaupt miteinander im Schilde?
Was?
Inga kam zu der Stelle am Bach, wo die Kastanie stand, hinter der er sich verborgen hatte, zu der Stelle, wo der alte Steg hinüber zu der zerstörten Schmiede führte. Und dort entdeckte Inga nun die Fußspuren im Schnee, auf die sie zuvor nicht geachtet hatte. Da waren die des Liudolf, unverkennbar, riesig
groß. Da waren auch ihre. Und da waren dritte – kleine, sehr kleine. So klein, dass sie auch hätten von einem Kinde stammen können. Doch sie stammten nicht von einem Kinde. Inga kannte diese winzigen Füße, sie hatten ihre Trägerin schon einmal überführt. Damals waren die Abdrücke jedoch noch zu viert gewesen, damals nach dem Wolfsangriff vor dem Ziegenstall. Heute waren es nur noch zwei Füße, denn es gab nur noch die eine Zwillingsschwester.
Inga hatte keine Zeit mehr, den Ort näher in Augenschein zu nehmen. Denn sie fürchtete, dass Liudolfs Geschrei, welches noch immer deutlich in der Ferne zu hören war, bald nicht nur Helfer, sondern auch Verfolger anlocken würde. Besser war es, sich zu sputen, um wieder den Schutz der Kirche aufzusuchen.
XXVII
B ruder Melchior war verschwunden und hatte Inga keine Nachricht, kein Zeichen hinterlassen. Sie wusste nicht, dass ein berittener Bote aus dem Kloster gekommen war, um den Mönch nach Corbeia Nova zurückzubringen. Alles hatte er offenbar liegen und stehen lassen. Auf dem Pult, welches ehedem von Agius genutzt worden war, befanden sich noch zahlreiche nicht fortgeräumte winzige Holzkisten, gefüllt mit getrockneten Krabbeltieren, und daneben stand ein Becher Ziegenmilch. Sie war warm.
Weit konnte Melchior nicht sein.
Vielleicht verrichtete er nur seine Notdurft.
Doch draußen vor der Tür fand Inga frische Pferdespuren im Schnee und zudem einen noch dampfenden Haufen, den das Tier hinterlassen hatte.
War Melchior mit jemandem davongeritten?
Inga wartete die Nacht ab. Doch es rührte sich nichts.
Kein Melchior, kein weißer Mann, kein Mob.
Inga lief es kalt den Rücken herunter, wenn sie darüber nachdachte, was sie dem mächtigen Liudolf angetan hatte. Sie konnte sich gut vorstellen, warum bislang noch keine wütende Meute hier vor dem Gotteshaus aufgetaucht war. Das lag weniger am Respekt vor dem geheiligten Schutzbereich der Kirche als vielmehr an der Tatsache, dass dem guten Liudolf ein großer Teil seiner Zunge abhandengekommen war.
Er würde schlicht nicht sprechen können, um seinen Freunden und Nachbarn mitzuteilen, wie ihm dieses Unheil zugefügt worden war. Inga sah ihn vor sich. Der verbliebene Teil seiner Zunge war nun gewiss mächtig angeschwollen und machte es ihm schier unmöglich, auch nur einen einigermaßen verständlichen Ton herauszubekommen. Abgesehen davon war es ihm gewiss auch unangenehm, berichten zu müssen, wie die Unholdin denn in die Lage geraten war, ihm tatsächlich die Zunge abbeißen zu können.
Doch dazu würde man zweifelsohne eine passende Geschichte erfinden. Wahrscheinlich würden sie
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