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Die Schluesseltraegerin - Roman

Die Schluesseltraegerin - Roman

Titel: Die Schluesseltraegerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Neumann
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diesen, denn er hätte es neben Rothger sogar am meisten verdient gehabt.
    Auch die Kirche hatte Interesse an den großen Ländereien der freien Sachsen. Der Kapuzenmann, dem sie auf dem heiligen Berg begegnet war und welcher sich mit Agius gestritten hatte; war dieser Kapuzenmann der Weiße? Aber warum sollten sie sich so viel Mühe machen, wenn sie es auf das Land der Hilgerschen abgesehen hätten? Nein, auch das war vollkommen unsinnig. Die Klostermänner hätten sicherlich einfachere
Mittel und Wege gefunden, wenn es ihnen darum gegangen wäre, eine Sachsenfamilie zu enteignen.
    Liudolf! Er, das Oberhaupt der Muttersippe, der Mann, der die gesamte Siedlung im Tal, einige Gehöfte im Umland und große Teile des Nachbarortes regierte, er hätte Grund genug, die Hilgerschen zu beneiden. Denn anders als diesen ging dem Liudolf nach und nach sein Besitz verloren. Er war nicht stark genug, alles zu halten. War er nicht bereits zur Hälfte Vasall des Klosters? Musste es ihn nicht ungemein ärgern, dass die Hilgerschen, dieser junge Zweig seiner eigenen Sippe, so sehr auf ihre Freiheit pochten und sie auch zu bewahren vermochten, während er, der Vater nahezu aller Freien dieser Gegend, mehr und mehr in Abhängigkeit der Franken und ihrer Kirche geriet? Aber warum würde er Ansgar am Leben lassen? Auch das ergab keinen Sinn. Es sei denn, er strebte an, einen seiner Söhne mit Gisela zu vermählen.
    Inga dachte nach.
    Die Söhne des Liudolf waren jung, denn Burkhard, der älteste, war vor zwei Sommern bei einem tragischen Jagdunfall ums Leben gekommen. Er war eine Böschung hinabgestürzt und hatte sich den Kopf aufgeschlagen. Sonst hatte Liudolf nur erwachsene Töchter, drei an der Zahl, und schließlich eben jene zwei jungen Söhne. Wenn Inga sich nicht täuschte, war der ältere der beiden namens Ingmar erst zwölf oder dreizehn Jahre alt.
    Warteten sie auf diesen?
    Sollte etwa er der Bräutigam Giselas werden?
    Doch diese zählte bereits einundzwanzig oder sogar zweiundzwanzig Sommer. Dennoch, unüblich war solch eine Heirat nicht.
    Würde der junge Ingmar als Gemahl der Gisela Erbe des Hilgerhofes und schließlich auch Erbe seines Vaters im Tal, so wäre die alte Sippe wieder vereint. So gäbe es keine erfolgreichen
Ausbrecher wie die Hilgerschen mehr, keine Emporkömmlinge, die auf eigene Faust in die Wälder zogen, diese rodeten und tatsächlich fruchtbares Land hervorbrachten.
    Liudolf hätte demnach durchaus einen triftigen Grund.
    Andererseits … Inga schlug sich mit der Hand vor den Kopf. Warum sollte Liudolf auf seinen Sohn warten? Er selbst war doch Witwer. Er selbst, dessen Frau an der Tollwut gestorben war, könnte doch Gisela heiraten. Er müsste nicht jahrelang ausharren und Ansgar unnötig am Leben lassen.
    Und außerdem bliebe bei diesen Spekulationen noch immer offen, um wen es sich bei dem Weißen handelte. Wer war er?
    Nichts ergab einen Sinn, und es war zwecklos, so viel darüber nachzudenken. Besser, man suchte und fand ihn, diesen Unhold. Ja, sie würde nun auf den Eschenberg gehen und ihn ausfindig machen. Vielleicht suchte er seinerseits nach ihr, weil sie ihr Versprechen gebrochen und über ihn geredet hatte. Doch offenbar redeten alle mittlerweile über ihn. Gunda kannte ihn, sie hatte ihn erwähnt, und die Leute in der Siedlung waren über seine Existenz informiert. Vielleicht war er gar nicht so gefährlich, wie er tat. Möglicherweise verfügte er über keinerlei überirdische Kräfte, sondern war schlicht ein alter Mann, der nun frierend in seiner Erdhöhle saß.
    Auch Inga fror. Zu lange schon stand sie in Gedanken versunken auf ein und derselben Stelle. Sie wickelte sich ihr wollenes graues Tuch fester um den Leib und stapfte weiter. Vor ihr lag der Tannenhain, hinter welchem sie wieder auf den Pfad zurückkehren würde, der dann unterhalb der Kuppe des Berges hin zu dem Wald führte, in dem sie die Höhle der Seherin Wanda vermutete.
    Aber was war das?
    Inga fand sich plötzlich vor einer Schnitzerei wieder. Ein abgebrochener Tannenstamm war offenbar kunstvoll bearbeitet
worden. So gekonnt, dass Inga erstaunt war, in der Holzfratze, die sie anschaute, niemand anderes als den alten Hilger zu erkennen. Das war ganz offensichtlich der alte Hilger, und unter dem seinen hatte sich einst ein anderes Gesicht befunden, nur war dieses zerschlagen worden. Der alte Hilger und die Racherune. Ja, da war sie wieder, die Racherune, die auch an den Stamm geritzt worden war, auf dem man den Kopf des

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