Die Schluesseltraegerin - Roman
Und uns fehlt nach wie vor der Schlüssel zu ihren Seelen. Es würde mich weniger bekümmern, Melchior, wenn ich mich nicht persönlich für sie verantwortlich fühlte.«
»Für sie? Für sie, die Heiden – oder etwa für sie, die eine?« Melchior blickte keck bei diesen Worten und zeigte dabei seine großen, schiefen Zähne.
Agius hingegen lief rot an. Er war heilfroh, dass die Dunkelheit diese Röte verbarg.
»Du hast mich ertappt«, murmelte er. »Aber das sei dir erlaubt, als meinem Freund.«
»Sie ist reizend, durchaus. Auch ich habe sie liebgewonnen – ihr Gemüt und ihr Wesen, versteht sich. Alles andere ist und bleibt mir, gottlob, unbekannt.«
Jetzt musste auch Agius ein wenig verlegen lächeln. »Melchior, mein Freund, darf ich dich um einen Gefallen bitten?«
»Nur zu, Bruder Agius.«
»Finde einen Vorwand und gehe zurück. Erkundige dich nach ihrem Verbleib. Sie kann doch nicht alleine dort in der Kirche leben. Erkundige dich auch in den Siedlungen nach den jüngsten Ereignissen. Frage, ob erneut seltsame Dinge vorgefallen sind. Gehe schließlich zu Ada, Frau des Ansgar, und rate ihr, gut auf ihre Söhne achtzugeben.«
»Hast du eine Vermutung, Agius?«
»Die habe ich. Ja, die habe ich. Und sie ist durchaus weltlicher Natur.«
»Könntest du meine Neugierde stillen und mir von deinen Gedanken berichten?«
»Noch nicht, Melchior. Niemand soll falsch verdächtigt werden, und mehr als ein Verdacht ist es nicht.« Dann hielt er inne und sprach mit leiser, fast schüchterner Stimme weiter: »Und
Melchior, falls du sie findest: Sag ihr, dass ich mit ihr sprechen muss, bevor ich das Kloster für immer verlasse.«
»Nun, auch ich habe Grund zurückzukehren«, sagte Melchior geheimnisvoll. Dann riss er urplötzlich seine schielenden Augen weit auf und schaute verschwörerisch hin und her, um mit vorgehaltener Hand hinzuzufügen: »Ich sagte dem Boten, der mich abholte, wir müssten uns beeilen, da tollwütige Wölfe ihr Unwesen in der Gegend trieben. Eine Notlüge, Gott möge mir vergeben. Denn, Agius, ich habe ein Geheimnis, von dem niemand wissen darf, erst recht niemand, der es dem Vater Prior oder gar dem Vater Abt mitteilen könnte.«
»So?« Agius schaute den Mitbruder fragend und ein wenig skeptisch an. Was konnte eine solch treue Seele wie der Mönch Melchior für ein Geheimnis haben?
»Ich habe sie alle gefangen, leider auch getötet und getrocknet.«
»Melchior! Was sprichst du da?«
»Hunderte sind es, und ich bewahre sie in unserer Kammer neben der Kapelle auf.«
»Getrocknete Tote? Hunderte? Dort?« Agius war sichtlich verwirrt.
»So ist es. Was, wenn der Bote sie gesehen hätte? Zweierlei Sünde wäre das: zum einen ein sinnloser Zeitvertreib, zum anderen ein Verstoß gegen das Gebot der persönlichen Besitzlosigkeit der Brüder unseres Ordens.«
»Die nicht gering einzuschätzende Sünde des Tötens hast du ausgelassen, lieber Melchior.«
»Nun, die mag der Herrgott mir vergeben, diente dieses doch allein dem hohen Zwecke der Wissenschaft.«
»Wissenschaft?«
»Nun, ich habe gleichsam ein Herbarium angelegt, ein Insektarium, wenn man so will.«
»Ich fürchtete Schlimmeres, Melchior.« Agius war erleichtert. »Und dieses Insektarium willst du nun abholen.«
»Verstecken will ich es. Verbergen.«
Agius lachte laut auf. »Nun denn, dann lass dir etwas einfallen, um zum heiligen Berg zurückzukehren. Ich frage mich nur, warum du es verstecken willst, wo es doch der Wissenschaft dient.«
»Nun, wie nur soll ich dem Vater Prior erklären, dass ich mich ohne Auftrag, eigenständig und von falschem Ehrgeiz getrieben an eine Arbeit machte, die mir viel zu viel Zeit abverlangte, um mich meiner eigentlichen Aufgabe, der Seelsorge, angemessen widmen zu können? Dir sage ich es nun, Bruder Agius, denn auch du bist ein Sünder und kannst mich nicht mehr schelten.«
»Fürwahr«, sagte Agius, noch immer amüsiert. »Fürwahr.«
»Nun, jetzt haben wir lange genug geplaudert. Ich werde mich denn bald auf den Weg machen, alleine, wenn es möglich ist. Und dir dann von den Ergebnissen meiner Erkundigungsreise berichten.«
»Das freut mich.«
»Zu guter Letzt gestatte mir noch eine Frage: Wie nur soll es mit dir weitergehen, Bruder Agius? Du empfindest die dir auferlegte Buße doch sicherlich als große Last. Eine begabte Seele wie du wird so etwas nicht lange über sich ergehen lassen können.«
»Demut will auch gelernt sein, lieber Freund. Doch leider empfinde ich mein Dasein
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