Die Schluesseltraegerin - Roman
tatsächlich Gisela zur Frau nahm? Diese Frage stellte sie sich immer wieder. Und immer wieder kam sie zu ein und demselben Ergebnis. Ansgar, selbst wenn er verrückt war, störte. Er störte ungemein, denn solange er da war, könnte Bero niemals der rechtmäßige, sondern nur der verwaltende Herr des Hofes sein.
Sicherlich würde sich seine Frau Ada darauf einlassen, einen Schwager Bero zu akzeptieren, denn immerhin konnte er sie vor der ebenso eigennützigen Hilfe des Klosters bewahren – aber er wäre nur ein Meier, mehr nicht, dürfte herrschen, so lange, bis der junge Friedrich alt genug war, um den verwirrten Vater zu beerben. Und Friedrich würde in nur wenigen Jahren ausreichend viele Sommer und Winter hinter sich haben.
Es war also nicht nur Ansgar, sondern auch das Kind Friedrich, die dem Ansinnen des Bero und der Rückkehr der Inga im Wege standen. Sie waren die beiden Letzten. Alle anderen waren bereits tot.
Welch seltsame Fügung, dachte Inga bei sich. Welch ungeheuerliches Schicksal. Wie nur konnte es sein, dass der Weiße tatsächlich all die Menschen aus dem Weg geräumt hatte, die auch ihnen, den Meinradschen, im Wege gestanden hätten? Alle, bis auf Ansgar, Friedrich und dessen beide kleinen Brüder, fünf- und einjährig. Bero musste diesen Schurken finden und fangen, bevor er sein eigentümliches Werk fortsetzte. Er musste ihn fangen und für die ausgebliebenen Mordtaten eine andere, friedlichere Lösung finden. Es ging nicht an, das blutige Spiel des Weißen zu vollenden, um von dessen wie auch immer gearteten Absichten zu profitieren.
Noch wusste sie nicht, ob dem Bruder gelungen war, was er anstrebte. Sollte es jedoch gelingen, sollte er den Mörder überführen und erfolgreich um die Hand der Gisela bitten, die ihm nur noch der alte Ulrich gewähren konnte, dann müsste man sich überlegen, was mit Ansgar und Friedrich zu tun sei. Zwei Möglichkeiten fielen Inga ein: Man könnte einerseits warten und der Zeit ihren Lauf lassen, da jeder Tag für jeden Menschen den Tod mit sich bringen könnte – einen ganz gewöhnlichen Tod durch Krankheiten oder Unglücksfälle. Es traf so viele, in jeder Familie mindestens einen im Jahr und bei Weitem nicht immer die Alten, und so war es nicht ausgeschlossen, dass auch Friedrich noch vor dem Erreichen des Erwachsenenalters dahingerafft wurde.
Doch auf diese Hoffnung konnte und wollte Inga sich nicht stützen. Da war nämlich noch eine zweite Möglichkeit – ein unblutiger Kompromiss, der Bero nicht ganz gefallen würde, der aber sehr viel mehr Sicherheit versprach. Diese Lösung würde Inga mehr behagen. Allerdings bedurfte es dazu ein wenig Verhandlungsges chicks.
Sie musste mit den Mönchen reden.
Was für eine dumme Idee, bei diesem Tauwetter einen solch schiefen und wackeligen Schubkarren, dazu schwer beladen, über die schlammigen Wege zu schieben.
Warum nur hatte sie ein volles Fass mitgenommen?
Sie hatte doch gar nicht die Absicht, es tatsächlich abzuliefern.
Jetzt steckte sie wieder einmal fest und kam, trotz aller Mühe, nicht aus der Dreckpfütze heraus, in der das rechte Rad des Karrens mehr und mehr zu versinken schien.
Es half nichts. Das Fass musste herunter, und dann würde es schon irgendwie gelingen, den Karren aus dem Dreck zu
ziehen. Mühselig knotete Inga die Stricke auf, mit denen das Transportgut befestigt war, leise schimpfte sie vor sich hin.
Die Tage wurden bereits länger, doch waren sie noch nicht lang genug, um sich solche ungeplanten Pausen leisten zu können. Eine Ewigkeit würde es dauern, das schwere Ding wieder auf den Karren zu hieven. Wenn es ihr denn überhaupt gelänge. Alle Mühe hatte es gekostet, das Fass in den Hof der Taverne zu rollen und dort mit Hilfe einer klapprigen Rampe aus Holzbrettern auf den ebenso klapprigen Schubwagen zu befördern. Und dazu heimlich, denn der dicke Ottmar durfte nichts davon erfahren. Sein Bein nässte wieder einmal, und er hatte seit zwei Tagen ein nicht hohes, aber ständiges Fieber, sodass er schläfriger war als sonst. Ein paar Tropfen von der Essenz des Katzenkrauts im warmen Bier hatten ihr Übriges getan, und nun würde er sicherlich den ganzen Tag auf seinem Hocker sitzend dahindösen – und seine Mutter schlief ohnehin, erst in der Nacht war ihr unerträgliches Krächzen wieder zu erwarten. Inga hatte Zeit genug, um den doch recht weiten, aber ebenen, an der Weser entlangführenden Weg zum Kloster zu nehmen. Doch dieser Weg hatte es tatsächlich in
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