Die Schluesseltraegerin - Roman
sich.
»Oh nein!«, schrie Inga auf.
In ihrem zornigen Eifer hatte sie zu sehr an den spröden Hanfseilen gezerrt, sodass sie plötzlich allesamt auf einmal rissen. Unaufhaltsam setzte sich das Fass in Bewegung und landete mit einem lauten Platschen mitten auf dem Weg – in einer zweiten, tiefen Pfütze, die das riesige Ungetüm nahezu ganz verschlang.
Inga war von oben bis unten mit kaltem Schlamm bespritzt, dennoch war ihr heiß. Sie schürzte ihr Kleid und watete in das fast knietiefe Nass, band sich dann ihr Kleid mit dem Gürtel hoch und versuchte – vergeblich – das Fass wieder hinauszurollen. Gerade jetzt war weit und breit keine Menschenseele
in Sicht, die ihr bei dieser unsäglichen Arbeit hätte helfen können.
Doch dann entdeckte sie etwas.
Sie waren noch weit entfernt, aber der Weg verlief gerade, beschrieb keine Kurven, sodass Inga sie von Weitem erblicken konnte. Da kamen Reiter, zahlreiche Reiter. Nicht schnell waren sie unterwegs, aber dennoch wirkten sie bedrohlich. Fremd sahen sie aus, trugen Rüstungen. Es waren sicherlich Frankenkrieger, edle Frankenkrieger. Gar der Kaiser selbst?
Inga stand eine Weile da, nicht wissend, was zu tun war.
Da lag auf der einen Seite des Weges der Karren im Dreck und auf der anderen Seite das Fass. Hier war kein Durchkommen, erst recht nicht für ein solch riesiges Gefolge.
Inga wurde nervös. Und je nervöser sie wurde, desto weniger konnte sie sich durchringen zu handeln. So stand sie mit ihrem geschürzten Rock, schmutzigen blanken Knien und einem vor Dreck braunen Gesicht noch immer in der Pfütze, als die Reiter an der Unglücksstelle ankamen.
»Was ist das? Mach Platz, Weib!«, schrie gleich der erste sie an. Er sah aus wie ein mächtiger Krieger, hatte einen prächtigen Bart und trug glitzernde Waffen. Sein Pferd war hochgewachsen und wohlgenährt. Inga schaute ihn mit großen Augen stumm an.
»Mach Platz für den Abt des Klosters und sein Gefolge. Ich befehle es dir. Du hältst uns alle auf.«
Inga fand ihre Sprache wieder.
»Verrate mir, wie ich Platz machen soll, edler Herr, und ich bin im Nu verschwunden.«
Dann fiel es ihr ein. Sie schlug sich mit der dreckigen Hand vor die Stirn, stakste umständlich aus der Pfütze heraus und zog den nun seines Gewichtes entledigten Wagen aus dem Matschloch ans Weserufer.
Schallendes Gelächter ertönte.
Inga wurde unter der Schlammkruste in ihrem Gesicht ganz rot. Sie hatte vollkommen vergessen, dass ihre Beine nackt waren. Im Nu griff sie zu ihrem Gürtel, lockerte ihn und ließ ihr Kleid wieder auf die gewohnte Länge nach unten fallen. Sie schaute nicht mehr zu dem riesigen Gefolge, welches darauf wartete, dass sie endlich den Weg frei räumte.
Das Fass musste noch fort. Ungeachtet dessen, dass nun auch ihr Kleid gänzlich nass und schmutzig wurde, sprang Inga wieder in die Pfütze, nahm ihr Messer aus dem befestigten Gürtel und hieb damit erfolglos auf das Fass ein. Sie musste es öffnen, denn wenn es leer war, würde es sicher leichter zu rollen sein.
Wieder erschallte das Gelächter der Männer.
Inga warf ihnen einen verzweifelten Blick zu. Ein halbes Dutzend Reiter waren es. Dahinter Sänftenträger. Inga hatte noch nie zuvor eine Sänfte gesehen. Es folgten Pferdegespanne und wieder Reiter.
Und all diese wichtigen Leute hielt sie mit ihrem verzweifelten Schauspiel auf.
Inga konnte nicht anders, sie musste nun ebenfalls ein wenig lachen.
»Ich bekomme das Ding nicht auf«, rief sie dem Krieger entgegen, der ihr mittlerweile am vertrautesten war.
»Es muss weg. Die Gespanne passen nicht daran vorbei.« Und mit diesen Worten preschte er nach vorn, zog eine Streitaxt unter seinem Umhang hervor und hieb mit einem Schlag das ganze Fass entzwei. Schäumend ergoss sich das Bier in die Pfütze. Und wieder erschallte das Gelächter der Männer.
Inga zerrte nun die zerborstenen Stücke aus dem Loch heraus, stellte sich dann an den Rand des Weges und ließ den Abt und seine Gefolgschaft passieren.
Da – in einer dieser Sänften musste der mächtige Gottesmann wohl sitzen, und ebenso wie Inga war auch er offenbar auf dem Weg ins Kloster. Ob Agius bei ihm war?
Melchior hatte so etwas angedeutet, als sie bei ihm in der Kirche gehaust hatte. Er hatte gesagt, dass Agius sicher nicht in Corbeia Nova verbleiben werde, es zöge ihn gewiss zurück ins Mutterkloster. Monate waren vergangen, seit Agius den heiligen Berg hatte verlassen müssen, und Inga war fest davon überzeugt, dass er in der
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