Die Schluesseltraegerin - Roman
ein und setzte dann ihren Weg fort. Nichts wünschte sie sich in diesem Moment sehnlicher, als ihn zu sehen.
»Noch immer ist er nicht richtig bei Besinnung?«
»Nein, Inga, auch ich bin in großer Sorge.«
Inga und Melchior stapften hinunter ins Tal. Dort lag Bruder Agius nach wie vor bei Gunda. Der Schlag auf Stirn und Nase, den er von dem alten Schmied Hatho erhalten hatte, musste ihm mehr zugesetzt haben, als sowohl Melchior wie auch Gunda angenommen hatten. Ein Transport des Kranken
hinauf in seine Behausung neben der Kirche, welche im Übrigen noch nicht gänzlich wieder hergerichtet war, war demnach nicht in Frage gekommen. Und so hatte Inga auf dem heiligen Berg lediglich Bruder Melchior angetroffen, ein Wiedersehen, über welches sie sich trotz der widrigen Umstände sehr freute.
Knarrend öffneten sie die Tür zu der windschiefen Behausung der alten Frau, die sich in greisen Jahren nun noch der Kräuterkunde verschrieben hatte. Inga wurde herzlich willkommen geheißen, und auch sie freute sich, ihre liebe Freundin Gunda zwar nach wie vor krumm, aber dennoch gesund anzutreffen. Ja, Gunda wirkte gesünder als je zuvor, ihre Wangen waren rosig, und ihre alten Augen strahlten.
»Du kommst wieder zurück, liebe Inga. Alles ist gut. Dein Bruder hat ihn gefunden, den Schlächter der Hilgerschen.« Und mit diesen Worten ergriff sie Ingas Hände und schaute ihr tief in die Augen. »Weißt du, wer es war?«
Inga neigte den Kopf leicht zur Seite und blickte Gunda scharf an.
»Höre, mein Kind, ich bin mittlerweile das älteste Menschlein in dieser Gegend, abgesehen vom alten Ulrich, versteht sich. Die jungen Leute können sich an niemanden erinnern, der hier vor vielen Jahren einmal gelebt hat und vielleicht zurückgekehrt sein könnte, obwohl man ihn für tot hielt.«
»Und so soll es auch bleiben, nicht wahr, Gunda?«
»Ich mag die sture Ada sehr«, sagte die Greisin nur und führte Inga zum Lager des Mönches, der mit einem enormen Verband um die Stirn und einer mächtig geschwollenen Nase schlafend auf einem Strohsack lag.
»Hat er Fieber?«, fragte Inga.
»Nein, aber er behält nichts bei sich.«
»Wir können da gar nichts machen, Gunda. Nur warten. Hoffentlich
ist sein Schädel nicht gebrochen. Die Nase jedoch hat ohne Zweifel gelitten.«
»So schön wie zuvor wird er nie wieder sein. Er ist aber auch nur ein Gottesmann und muss den Frauen nicht gefallen.« Mit diesen Worten stieß Gunda Inga ihren spitzen Ellbogen in die Seite.
»Wie oft ist er wach?«, fragte Inga errötend.
»Schon häufiger als gestern. Spricht ganz gewöhnlich, kein wirres Zeug. Ich habe nicht den Eindruck, dass der Waldmann ihm den Verstand aus dem Kopf geprügelt hat. Er hat übrigens auch nach dir gefragt, Inga.«
Gunda lachte ein wenig keck, hielt sich dann die faltige Hand vor den Mund und schielte verstohlen zu Melchior hinüber. Der jedoch war damit beschäftigt, zahllosen Krempel von seiner Insektariumstruhe zu räumen, welche Gunda für ihn aufbewahrte, indem sie sie als nützliche Ablage für allerlei Dinge gebrauchte.
Inga nutzte die Tatsache, dass Melchior abgelenkt war, und strich zärtlich über den nicht verbundenen Teil von Agius’ Gesicht. Sanft zwickte sie ihm dabei in die Wange, sodass er tatsächlich die Augen aufschlug.
»Du?«, fragte er.
»Ich habe von deinem Kampf gehört.«
»Er ist tot, sagte mir die Kräuterfrau.«
»Mein Bruder hat ihn getötet, um euer beider Leben zu retten. Ihr werdet es eurem Abt sagen müssen.« Inga sprach diese Worte nicht ohne Hintergedanken.
Agius schmunzelte.
»Zunächst hätte ich gerne ein Kraut gegen Kopfweh.«
»Ich bringe dir eines, Mönch«, sagte Gunda und schlich in eine der nahen Ecken ihres winzigen Hauses, aus welcher sie eine Tinktur in einem winzigen Tonbehältnis holte und Agius unter die lädierte Nase hielt.
»Nur schnuppern, das genügt schon. Nur schnuppern, Mönch.«
»Hast du das alles aus meiner Schmiede, Gunda?«, fragte Inga.
»So ist es, Kind. Sie haben viel zerstört, als sie wütend auf dich waren. Aber das, was heil geblieben ist, habe ich aufgelesen und hierher getragen. Es hat schon vielen Menschen gute Dienste erwiesen, den besten Dienst jedoch mir. Ich bin nun anerkannt, Inga. Ja, anerkannt. Dennoch würde ich mich freuen, wenn du zurückkehrst.«
»Dem steht nun nichts mehr im Wege«, sagte auch der leidende Agius leise.
»Ich muss noch eine Sache erledigen, dann bin ich wieder zurück. Eine Sache noch«, fügte Inga
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