Die Schluesseltraegerin - Roman
begeben wir uns zu Tisch.«
IV
B ald schon hielt der Winter Einzug, und es war ein kalter, weißer Winter. Der Schnee bedeckte knietief Wiesen und Felder, und während der zwölf Raunächte, in denen Wodan auf wilder Jagd war und man als guter Christ die Geburt des Jesuskindes feierte, stürmte und schneite es ärger denn je.
Es war die Jahreszeit, in der man enger zusammenrückte, Tage und Nächte gemeinsam unter einem Dach verbrachte; eine Zeit, in der man sich mit geliebten Menschen wohl und geborgen gefühlt hätte. Mit Menschen jedoch, die einem mehr oder weniger zuwider waren, wurde die erzwungene Nähe fast unerträglich.
Ärger als je zuvor fühlte Inga sich eingepfercht, gefangen in diesem warmen, düsteren, verrauchten, stickigen Haus, wo sie ihre Zeit zusammen mit den böswilligen Zwillingen, der sturen Ada, den schreienden Kindern und, schlimmer noch, dem missmutigen Ansgar verbringen musste. Ihr Lichtblick war der alte Ulrich und manchmal auch der junge Gernot, mit dem sie jedoch nur wenig sprach, um keinen falschen Verdacht bei den stets aufmerksamen Schwestern zu erregen.
Sooft es die Hausarbeit zuließ, ging Ida hinaus in das Grubenhaus, um zu spinnen und zu weben. Sie liebte diese Arbeit, und meist schlich sie sich heimlich davon, um nicht von einer der anderen Frauen begleitet zu werden. Dort arbeitete sie dann stunden-, ja mitunter nächtelang, und nur wenige Tage nach der Wintersonnenwende hatte sie schon sämtliche Wolle sowie
sämtlichen Flachs versponnen; und nicht nur das: Sie hatte auch alles zu Tuchen verwebt und teilweise bunt eingefärbt.
Blau mit Hilfe der Heidelbeere, gelb dank des Ginsters und rot durch die Malve. Man würde sie gewiss tadeln, dass sie es mit den Farben ein wenig übertrieben hatte, aber der weiße Winter und die Trostlosigkeit, die er mit sich brachte, zwangen sie regelrecht dazu, ihre Tuche so bunt wie nur irgend möglich zu gestalten.
Meistens konnte sie alleine arbeiten. Die Mägde hatten genug im Haus und mit den Tieren zu tun, Ada kümmerte sich um ihre Kinder, und die Schwestern waren zum Glück zu faul, um sich die Füße auf dem Weg zum Grubenhaus nass und kalt zu machen.
Und so hatte Inga sich in diesem Winter ihr eigenes kleines Reich geschaffen: ein Häuschen, in dem es trocken war, in dem es warm war und in dem sie allein sein konnte. Nur zum Essen, zum Versorgen der Ziegen und Schafe, zum Verrichten der ihr obliegenden Hausarbeiten und anfangs auch zum Schlafen verließ sie ihr Grubenhaus. Aber viele Nächte verbrachte sie auch dort, sich ein Lager aus Schaffellen und Wolldecken bereitend. In diesen Nächten schlief sie besser als jemals zuvor in ihrem Leben. Kein Schnarchen, kein Furzen, keine Liebesspiele, deren unfreiwilliger Zeuge man zwangsläufig wurde, wenn man zusammen mit den Mitgliedern einer ganzen Sippe in einem einzigen Raum auf den an den Wänden entlangführenden Holzbänken nächtigte.
Doch dank ihres unermüdlichen Fleißes waren in diesem Winter Wolle und Flachs alsbald ausgegangen, es gab nichts mehr zu tun, und Inga überlegte angestrengt, wie sie sich neue Rohstoffe für ihre geliebte Arbeit beschaffen sollte. Da fiel ihr Blick auf die hintere, dunkle Ecke des Häuschens. Eine kleine Ausbuchtung, die den Zweck erfüllte, dass man dort alles hineinwarf,
was unbrauchbar geworden war. Inga hatte sich schon lange vorgenommen, diese Müllhöhle zu säubern, bislang aber nicht die rechte Lust dazu gefunden. Hier fanden sich zwischen Kehricht und kaputten Webgewichten sicherlich auch noch allerlei verfilzte, unbrauchbare Wollreste. Eine Spindel würde sie damit gewiss vollbekommen, und so wühlte sie in dem Haufen nach allem, was ihr nützlich erschien.
Was war das?
Zuerst dachte sie, es handele sich um Pferdehaar, doch dazu war das dunkle Büschel, das sie plötzlich in der Hand hielt, zu dünn. Ein ganzer Strang dunklen langen Haares war es, und dieses Haar war nicht abgeschnitten. Ausgerissen war es, das verriet die Blutkruste, die das Büschel an einem seiner Enden zusammenhielt. Und als Inga weiterwühlte, fand sie einen zweiten, etwas kleineren Zopf.
Der Länge nach zu urteilen, war es Frauenhaar. Keine der Frauen in ihrem Hause hatte jedoch so dunkles Haar, keine außer Uta. Und Uta, so hieß es, war fortgegangen, davongelaufen und wahrscheinlich mit irgendeinem Hausierer von dannen gezogen. Nun ja, aber einen großen Teil ihrer Haare schien sie hier gelassen zu haben. Und auch wenn sie sehr um Rothger getrauert und sich
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