Die Schluesseltraegerin - Roman
ihm gehört. Wie gelangt man an solch unbekannte Schriften?«
»Bruder Anselm ist auf seiner Rückkehr aus Rom auf ihn gestoßen, in einem kleinen Kloster inmitten der Berge. Man mag es nicht meinen, sie gaben ihm ihr einziges Exemplar mit auf den Weg. Niemand von ihnen beherrscht das Griechische, und somit konnten sie der Schrift keinen Wert abgewinnen.«
»Welch ein Glück für dich, Bruder Agius, der du doch als
einer der wenigen dieser alten Sprache mächtig bist und zudem zwischen guten und schlechten Lehren unbekannter Autoren zweifelsohne zu unterscheiden weißt.«
»Seine Lehren sind unbedenklich, sei dir dessen gewiss, Bruder Taddäus.«
Dieser nickte nur stumm, dann fuhr er fort: »Nun jedoch sind deine Zeiten der Kontemplation und der stillen Gelehrsamkeit vorüber. Wie ich soeben erfahren habe, bist ausgerechnet du auserwählt worden, den wilden Germanen Gott näher zu bringen und das von den Fesseln der Dämonen umstrickte Volk unter das sanfte Joch Christi zu führen. Eine Aufgabe, die, bei allem Respekt, keine ist, die deinem Wesen angemessen zu sein scheint.«
»Wie, Bruder Taddäus, müsste mein Wesen sein, um als angemessen für diese Aufgabe zu gelten?«
Der Angesprochene lächelte nur wissend und kam dann auf ein anderes Thema zu sprechen.
»Was sind das für Leute, diese Sachsen, an denen das geplante Experiment vonstatten gehen soll?«
»Es handelt sich um die Bewohner von drei Siedlungen und nicht weniger als zehn Einzelgehöften. Allesamt sind sie getauft, sogar die ältesten unter ihnen. Aber dennoch würde ich sie als ungläubig bezeichnen. Doch das ist nicht ihre Schuld, Unwissen allein und mangelnde Seelsorge lassen sie immer wieder zu ihren heidnischen Gewohnheiten zurückfinden. Zu weit entfernt sind die nächsten Gotteshäuser, kaum zumutbar, auf unwegsamen Pfaden mit Kindern und Alten wöchentlich den weiten Weg bis ins entfernte Huxori zu bestreiten.«
»Und ihr Stand?«, wollte Taddäus wissen.
Agius fuhr fort: »In den drei Siedlungen gab es bereits seit vielen Jahren Königsgut, welches im letzten Jahr dem Kloster vermacht wurde. Hier leben bereits einige Vasallen des Klosters,
die sich aber dennoch als Freie betrachten, da sie noch über zahlreiches Eigengut verfügen. Meines Erachtens sind sie zum großen Teil vernünftig, wissen um die Vorteile der Lehnshoheit und werden mit sich reden lassen. Andere hingegen – und das betrifft vor allem zwei bis drei der gesondert liegenden Gehöfte – sind stur. Sie beharren auf dem, was sie ihre Freiheit nennen, und sehen in jedem Kuttenträger einen Scharlatan und Dieb. Sie zu überzeugen, wird schwierig sein.«
»So, so. Ist das Land sehr fruchtbar?«
»Das Land in den Tälern ist sehr fruchtbar, wird jedoch schon seit Jahrhunderten bewirtschaftet. Sie verstehen nicht viel davon, dass Ackerbau eine Wissenschaft ist, wehren sich gegen neue Anbaumethoden und ernten weniger, als das Land hervorbringen könnte. Andere jedoch – meist die, deren Höfe jung sind, die Wald gerodet und ihre Felder erst jüngst erschlossen haben – scheinen mehr Erfolg zu haben. Ihre Wiesen und Äcker liegen an Hängen, sind voller Wurzeln und Steine, aber dennoch sind sie ertragreicher. Offenbar hängt das mit der Willenskraft und dem Geschick der einzelnen Bauern zusammen.«
»Aber stur sind sie allesamt.«
»So ist es. Die einen mehr, die anderen weniger.«
»Sind Aufstände zu befürchten?«, wollte Taddäus wissen.
»Ich glaube nicht. Mein Eindruck ist, dass sie untereinander so zahlreiche Fehden und Konflikte austragen, dass ihnen die Kraft zu einem gemeinschaftlichen Akt gänzlich fehlt. Mir ist niemand aufgefallen, den man als Anführer eines möglichen Aufstandes im Auge behalten müsste. Es ist wahrlich kein friedliches Volk. Sie schlagen sich gegenseitig tot, kennen keine Rechtsprechung, alles ist eine Frage der Ehre, Rache eine Pflicht. Ihnen Gott näher zu bringen wird ein steiniger Weg, aber Rebellen sind sie nicht.«
»Sie schlagen sich lieber gegenseitig tot«, sagte Taddäus leise,
sich mit dem Zeigefinger der linken Hand an der Oberlippe reibend.
»Wollen wir ihnen das verbieten, Bruder Agius?«, fragte er dann, während seine kleinen Augen verächtlich funkelten.
Agius schwieg und schaute sein Gegenüber kühl an, dann wandte er seinen Blick zum Prior, welcher ihm nur stumm zunickte und sagte:
»Ich denke, lieber Taddäus, dass unser Bruder Agius seiner Aufgabe so hervorragend gewachsen ist, dass es ihm auch ohne
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