Die Schmerzmacherin.
vorsichtig. Sie öffnete die einzelnen Laden. Sie fand keine Plastikmappe. Kuverts. Aber nur in der halben Größe. Sie faltete die Papiere und steckte sie in ein Kuvert. Sie schob die Schreibunterlage zurecht. Stand auf. Wischte den Sitz des Ledersessels mit der Daunendecke ab. Sie warf sich die Daunendecke über die Schultern und ging in ihr Zimmer. Die einzige freie Zeile war neben ihrem Namen. Sie war die Letzte, die von der Marina eingefangen werden musste.
Im nächsten Stockwerk. Sie stand auf dem dunkelrot-schwarzen Spannteppich und schaute die Stiegen hinauf. Sie rief nach Melvin. Sie schrie »Melvin«. Irgendjemand sollte da sein. Sie wollte ihn auch nur sehen. Sie wollte nur die Gewissheit, dass überhaupt noch jemand anderer existierte. Sie schrie noch einmal und löste wieder einen Schwall Blut aus. Das Blut lief die Beine hinunter. Tropfte auf den Teppich. Es kam keine Antwort. Melvin war nicht da. Es war niemand da. Sie ging in Marinas Schlafzimmer. Auch hier lief die Heizung. Sie ließ sich auf Marinas Bett fallen. In Marinas Schlafzimmer war alles golden und pfirsichfarben mit scharlachroten Akzenten. Sie ließ sich auf das Bett fallen. Auf die Daunendecke und stand dann schnell wieder auf. Sie ging in Marinas Ankleidezimmer und schaute sich um. Sie fand keine Binden oder Tampons. Das würde es bei Selina geben. Sie nahm ein Prada-Wochenendcase aus dem Kasten mit den Koffern und Taschen und einen hellgrauen Schal. Ein spinnwebfeines Gewebe.
Bei Selina versorgte sie sich mit allem. Sie duschte in Selinas Badezimmer. Türkis und dunkelblau. Sie zog ein Paul-Smith-Kleid an und nahm dunkelbraune Stiefel. Mantel. Die Mäntel von Marina und Selina waren alle zu madamig. Wirkten ältlich. Upperclass. Spießig. Sie stieg zu ihrem Zimmer hinauf. Stopfte ihre Sachen in die große Prada-Tasche. Sie rollte die Daunendecke zusammen. So klein es ging, und rammte sie in die Plastiktasche vom Flughafen München, in der sie die Handcreme aus dem duty free transportieren hatte müssen. Die Daunendecke passte nicht ganz hinein. Außerhalb der Plastiktasche sprang sie auf. Braunblutige Schmierer zeigten sich. Sie trug ihre Taschen. Nahm die zusammengerollte Daunendecke unter den Arm. Balancierte die Seifenschale und ging hinunter. Sie ließ alles im Salon zurück und ging in die Küche. Sie hielt die Seifenschale weit von sich weg.
In der Küche musste sie sich setzen. Die Seifenschale stand auf der Frühstückstheke am Fenster. Der Terrassenboden gleich vor der breiten Schiebetür nur noch am Rand feucht und Schneereste. Auf dem Rasenstück bis zur Hecke lag der Schnee nass glänzend und dünn. Spuren im Schnee. Kreuz und quer. Die Füchse.
Sie saß auf der schwarzgraufleckigen Steinplatte der Frühstückstheke am Fenster und schaute auf die Gärten hinaus. Weiß und schwarz. Der Schnee am Boden. Die nackten Äste der Bäume und Sträucher feucht glänzend. Es war nicht kalt genug. Der Schnee blieb nur auf den Rasenstücken liegen. Die schmalen Gärten. Immer ein kleines Rasenstück und Hecken rundherum. Bäume an der Mittelgrenze. Sie schaute hinaus. Sie wollte wissen, wo die Füchse wohnten. Die Füchse waren in der Nacht zu hören und ihre Schatten zu sehen, wenn sie über die Schneeflecken huschten. Die Füchse husteten. Sie hatte sich gefürchtet. Die ersten beiden Nächte. Dann hatte sie Melvin gefragt. Melvin hatte lachen müssen. Foxes. Das wären die Füchse. Ja. Das klänge, als huste ein Orchester von alten Männern da draußen. Am Tag war nichts zu sehen. Wo lebten die am Tag. Die Hecken waren schmal. Der Rasen glatt. Nirgends eine Ecke, die ein Versteck bot. Nirgends ein Schuppen, hinter dem Platz gewesen wäre. Hier kamen die Gärtner mit ihren Gartengeräten her. Hier war der Grund so teuer, dass niemand den Platz für einen Schuppen verschwendet hätte. Wo lebten also diese Füchse. Kamen die von anderswo hierher. Lebten die auf der Straße. Aber die Gärten dieses Blocks. Es gab nur eine Stelle, an der ein Garten an die Straße reichte. Von Woodfall Street gab es eine Möglichkeit. Sie war eigens um den Block gegangen, um das zu sehen. Kamen diese Füchse als Touristen in der Nacht in die Gärten und husteten da herum.
Ihr war elend gewesen. Wochenlang war ihr elend gewesen. Sie war schwer von diesem Elend gewesen. Sie hatte nie wieder aufstehen wollen und dieses Elend herumtragen. Sie hatte nur Kaffee trinken können und sich Alkohol gewünscht. Sie hatte sich die Schärfe von Whisky gewünscht.
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