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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Feuer aufgeschreckt, verließen sie ihre Nester, wollten sich aber nicht zu weit von ihnen entfernen. Die flatternden Flügel in der Höhle waren bunte Blumen am Berghang, Schwärme kreisender Schmetterlinge. Das Zwitschern der Schwalben füllte die Höhle, als weinten sie Blut und schrien Blut. Meine Schwiegermutter sagte, sie habe die Bitternis und den Zorn in ihren Stimmen hören können. Ihr Vater, der auf den hohen grünen Bambusstangen über ihrem Kopf thronte, erreichte die andere Seite der Höhle, wo sich mehr als ein Dutzend Nester gebildet hatten. Ihr Vater trug ein weißes Stirnband. Er hob den Kopf, seine dunklen Nasenflügel weiteten sich, er sah aus wie ein gebratenes Spanferkel. Er streckte ein Messer mit weißem Griff aus und schnitt mit einem einzigen Streich ein Nest ab, fing es in der Luft auf und steckte es in den Beutel, der an seinem Gürtel hing. Ein paar kleine schwarze Gegenstände fielen aus dem Nest und landeten mit einem leisen Aufprall vor den Füßen meiner Schwiegermutter. Sie bückte sich, fuhr mit der Hand darüber und sammelte die zerbrochenen Eierschalen auf, an denen noch Eigelb und Eiweiß klebten. Meine Schwiegermutter sagte, der Anblick habe sie unendlich traurig gestimmt. Es war ihr auch schrecklich, zuzusehen, wie ihr Vater sein Leben riskierte, um meterhoch über dem Boden auf schwankenden Bambusstangen sitzend Schwalbennester zu sammeln. Schwärme von Schwalben stürzten sich auf die Fackel im Munde ihres Vaters, als wollten sie die Flammen löschen und ihre Nester und ihre Nachkommen schützen. Aber die Hitze trieb sie immer wieder im letzten Augenblick zurück. Kurz bevor die Flammen sie versengt hätten, änderten die surrenden Flügel ihre Richtung. Meine Schwiegermutter sagte, ihr Vater habe sich nicht um die Schwalben, die um ihn schwirrten, gekümmert. Selbst wenn ihre Flügel gegen seinen Kopf schlugen, blieben seine Augen auf die Nester an der Felswand gerichtet. Eines nach dem anderen kratzte er sie mit gleichmäßiger, genauer und entschlossener Geschicklichkeit ab.
    Meine Schwiegermutter sagte, kurz bevor die Fackeln erloschen, seien ihr Vater und ihre Onkel an den Bambusstäben, die an der Wand lehnten, herabgeglitten. Sie sammelten sich und entzündeten neue Fackeln, während sie die Nester aus ihren Beuteln auf ein weißes Tuch ausschütteten. Sie sagte, normalerweise habe ihr Vater nur für die Dauer einer Fackel Nester gesammelt. Seine jüngeren Brüder arbeiteten drei Fackeln länger weiter, während er unten blieb und die Nester vor den Ratten schützte. In der Zwischenzeit ruhte er sich aus. Sie waren überrascht und erfreut, als meine Schwiegermutter auftauchte. Ihr Vater fragte sie vorwurfsvoll, warum sie allein in die Höhle gegangen sei. Sie sagte, sie habe so ganz alleine da draußen Angst gehabt. Meine Schwiegermutter sagte, sobald sie das Wort «Angst» ausgesprochen habe, habe sich die Stimmung ihres Vaters plötzlich verändert. Er gab ihr eine Ohrfeige und sagte: Halt den Mund! Sie sagte, sie habe erst später erfahren, dass niemand Worte wie «fallen», «ausrutschen», «Tod» oder «Angst» benutzen durfte, um ein großes Unheil zu verhüten. Sie fing an, wegen der Ohrfeige zu weinen. Ihr jüngster Onkel sagte: Weine nicht, Yanni. Ich werde dir später eine Schwalbe fangen.
    Die Männer rauchten eine Pfeife, wischten ihre verschwitzten Körper mit den Beuteln ab, die sie am Gürtel trugen, steckten die Fackeln wieder zwischen die Zähne und gingen zurück ins Innere der Höhle. Ihr Vater sagte: Wenn du schon einmal da bist, kannst du die Nester bewachen, und ich gehe für noch eine Fackellänge an die Arbeit.
    Meine Schwiegermutter sagte, ihr Vater sei mit einer Fackel zwischen den Zähnen weggegangen. Sie sah Wasser, das über den Höhlenboden lief, und Schlangen, die im Wasser schwammen. Der Boden war von verfaulten Bambusstangen und Schlingpflanzen übersät. Dicke Schichten von Schwalbenkot bedeckten die Felsen am Höhlenboden. Mit den Augen folgte sie ihrem jüngsten Onkel, der versprochen hatte, ihr eine lebendige Schwalbe zu fangen. Sie sah zu, wie er an mehreren grünen Bambusstangen hochstieg und bald, als habe er Flügel unter den Füßen, eine Höhe von zwölf oder mehr Metern erreichte. Er stützte den Fuß auf einen Spalt im Felsen, bückte sich, hob die Bambusstange unter seinen Füßen hoch und verankerte sie in dem Spalt. Dann hob er die nächste Stange hoch, legte sie quer darüber und holte dann eine weitere, mit der er die

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