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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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aus. Er biss sich auf die Lippen und schmeckte sein eigenes Blut.
    Meine Schwiegermutter sagte: Mein Gott! Es war, als solle es hundert Jahre dauern. Schließlich begann das gewaltige Nest sich zu neigen und hing nur noch an einem Faden. Noch ein Schnitt, und es würde wie ein riesiges weißes Goldstück zu Boden fallen.
    Jüngster Onkel, streng dich an!, rief meine Schwiegermutter gegen ihren Willen aus. Unmittelbar nach ihrem Ruf schwang sich sein Körper nach vorn, und das weiße Nest fiel vom Felsen. Es schien ewig in der Luft zu schweben und zu tanzen, bis es vor ihren Füßen und den Füßen ihres Vaters landete. Gemeinsam mit dem fallenden Nest stürzte auch ihr jüngster Onkel, der Onkel mit den unübertrefflichen Fähigkeiten. Normalerweise konnte er aus einer Höhe von mehreren Metern herabgleiten, ohne sich wehzutun. Aber diesmal war die Höhe zu groß und sein Körper in die falsche Richtung gedreht. Sein Gehirn spritzte auf das Schwalbennest. Die Fackel brannte noch, als sie zu Boden fiel, und erlosch erst knisternd, als sie das seichte Wasser auf dem Höhlenboden erreichte.
    Meine Schwiegermutter sagte, auch ihr Vater sei fünf Jahre nach ihrem jüngsten Onkel in einer Höhle zu Tode gestürzt. Aber die Aufgabe, Schwalbennester zu sammeln, hörte nicht auf, nur weil jemand gestorben war. Sie konnte den Beruf ihres Vaters nicht aufnehmen, aber sie wollte auch nicht von ihren Onkeln abhängig sein. So machte sie sich an einem heißen Sommertag, das riesige Nest, das vom Blut ihres Onkels befleckt war, in der Hand, auf die lange Reise in ihr eigenes Leben. Damals war sie vierzehn Jahre alt.
    Meine Schwiegermutter sagte, unter normalen Umständen wäre sie niemals zu einer berühmten Schwalbennestköchin geworden, denn diese herzzerreißenden, die Seele aufwühlenden Bilder stünden ihr jedes Mal vor Augen, wenn sie mit einer Nadel Verunreinigungen aus einem Schwalbennest entfernte. Sie konnte nur deshalb jedes Nest mit äußerster Hingabe und Sorgfalt kochen, weil sie die bitteren Mühen kannte, die hinter jedem Schwalbennest standen: die Mühen der Schwalben und die Mühen der Nestsammler. Was Schwalbennester anging, hatte sie unschätzbare Erfahrungen gemacht. Aber zutiefst im Herzen blieb der Zweifel. Die Ähnlichkeit zwischen Schwalbennestern und menschlichen Gehirnen beunruhigte sie, und dies Gefühl konnte sie erst überwinden, als Jiuguo die ruhmvolle Praxis entwickelte, Fleischkinder zu kochen und zu essen.
    Offensichtlich beunruhigt, sagte meine Schwiegermutter: Die Nachfrage nach Schwalbennestern ist auf dem chinesischen Festland in den Neunzigern steil angestiegen, aber der Beruf des Schwalbennestsammlers ist in Südchina so gut wie ausgestorben. Neuerdings nehmen die Sammler moderne Ausrüstung wie hydraulische Hebebühnen mit in die Höhlen und zerstören damit nicht nur die Nester, sondern töten auch die Schwalben. In der Tat kann man in China keine Nester mehr ernten. Unter diesen Umständen muss China große Mengen von Nestern aus Südostasien importieren, um die Bedürfnisse des chinesischen Volkes zu befriedigen, und das hat den Preis von Schwalbennestern ruckartig ansteigen lassen. In Hongkong kostet ein Kilogramm 2500 US Dollar, und der Preis steigt weiter. Dies wiederum hat bei den Sammlern im Ausland eine wahre Sammelwut hervorgerufen. Früher haben mein Vater und seine Brüder nur einmal im Jahr Schwalbennester gesammelt, aber heute sammeln die Nestsammler in Thailand sie viermal jährlich. In zwanzig Jahren werden die Kinder nicht mehr wissen, wie ein Schwalbennest aussieht, sagte meine Schwiegermutter und löffelte ihre Suppe aus.
    Ich sagte: In Wirklichkeit gibt es schon heute weniger als tausend chinesische Kinder, die jemals Schwalbennester gegessen haben. Für den Durchschnittsbürger und die Massen ist der Nachschub an diesem Zeug von keinerlei Bedeutung. Wozu die ganze Aufregung?

ACHTES KAPITEL
     
I
     
    Yidou, mein Bruder!
     
    Deine Erzählung und deinen Brief habe ich erhalten und gelesen.
    Bei der Lektüre von Schwalbenjagd sind mir eine Reihe von Gedanken durch den Kopf gegangen. Als ich ein Kind war, hat mein Großvater mir erzählt, wenn reiche Leute sich zum Essen setzten, sei ihr Tisch voll von Dingen wie Kamelhufen, Bärentatzen, Affenhirn, Schwalbennestern und derlei Dingen. Ich habe schon einmal ein Kamel gesehen, und ich hege keinen Zweifel daran, dass man ihre großen fleischigen Hufe mit Genuss verspeisen kann, obwohl ich selbst bisher keine Gelegenheit

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