Die Schnapsstadt
Vogelschwärme kreisten mit schrillen Schreien in der Luft. Die Nestsammler schliefen unter dem Nachthimmel und wechselten kaum ein Wort. Früh am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, sagte ihr Vater: Los jetzt! Die geheimnisvolle, gefährliche Aufgabe, die Jagd auf Schwalbennester, hatte begonnen.
Das Land war von zahlreichen dunklen Höhlen übersät. Meine Schwiegermutter sagte, ihr Vater habe vor einer großen Höhle einen Altar errichtet, ein Bündel Geistergeld verbrannt, sich mehrmals bis zum Boden verneigt und dann den Befehl erteilt: Tötet das Opfertier! Seine sechs Brüder stürzten hinzu und warfen den Büffel auf die Seite. Seltsamerweise leistete der starke Büffel keinen Widerstand. Es sah weniger aus, als hätten ihn sechs Männer zu Boden geworfen, denn als habe er sich freiwillig hingelegt. Die Beine falteten sich einfach zusammen, als beständen sie aus Teig, und das Tier fiel zu Boden und blieb ruhig liegen. Der mächtige Nacken lag auf dem felsigen Boden, und der riesige Kopf mit seinen stahlgrünen Hörnern hing daneben, als sei er an den Hals angeschweißt. Der Büffel lag da, als nehme er sein Schicksal als Opfertier für den Höhlengott freiwillig hin. Meine Schwiegermutter sagte, sie habe das Gefühl gehabt, die Schwalbennester seien das Privateigentum des Höhlengottes und ihr Vater und ihre Onkel böten ihm den mächtigen Büffel im Austausch an. Der Gott muss ein gewaltiges Ungeheuer gewesen sein, wenn er einen ganzen Wasserbüffel auffressen konnte. Meine Schwiegermutter sagte, schon der Gedanke habe ihr Furcht eingejagt. Nachdem sie den Büffel zu Boden gestoßen hatten, traten ihre Onkel beiseite und sahen zu, wie ihr Vater eine glitzernde Axt aus dem Gürtel zog. Er hielt die Axt mit beiden Händen und ging auf das Opfertier zu. Eine schwere Hand schien sich um ihr Herz zu legen. Nach jedem Herzschlag schien es zu zögern und aufs Neue ansetzen zu müssen. Ihr Vater murmelte etwas Unverständliches. Furcht tanzte in seinen schwarzen Augen. Plötzlich taten ihr ihr Vater und der Büffel unendlich Leid. Sie spürte, dass dieser Mann, der so hager war wie ein Affe, genauso bemitleidenswert war wie der Büffel, der ausgestreckt auf dem steinigen Boden lag. Was hier geschah, entsprang weder dem Willen des Schlächters noch des Schlachtopfers: Beide wurden von einer überwältigenden Macht dazu getrieben, das zu tun, was getan werden musste. Als meine Schwiegermutter den gewaltigen, seltsam geformten Eingang der Höhle sah, die seltsamen Geräusche hörte, die aus ihrem Inneren drangen, und den Unheil verheißenden Luftzug spürte, der aus der Höhle wehte, kam sie auf den Gedanken, das, was ihrem Vater genauso viel Angst machte wie dem Büffel, müsse der Gott da drinnen sein. Sie sah die zusammengekniffenen Augen des Büffels. Die Augenlider pressten die Wimpern zu einem dünnen Strich zusammen. Eine smaragdgrüne Fliege saß in einem Augenwinkel und suchte nach etwas. Die ekelhafte Fliege irritierte meine Schwiegermutter so sehr, dass ihre eigenen Augenwinkel zu jucken begannen, aber der Büffel zuckte nicht einmal. Der Vater meiner Schwiegermutter trat neben den Büffel und sah sich wie in Trance um. Woran dachte er? Meine Schwiegermutter sagte, er habe in Wirklichkeit gar nichts gesehen, sein Blick sei vollkommen leer gewesen. Er hielt die Axt in der linken Hand, spuckte in die rechte Handfläche, nahm die Axt dann in die rechte Hand und spuckte in die linke. Schließlich packte er die Axt mit beiden Händen und verschob die Beine ein wenig, als suche er nach einem sichereren Stand. Er atmete tief ein und hielt den Atem an. Sein Gesicht wurde dunkelrot, und seine Augen quollen vor. Dann hob er die Axt hoch über den Kopf und ließ sie mit Schwung herabsausen. Meine Schwiegermutter hörte den Aufschlag, als die Axt den Kopf des Büffels durchschlug. Ihr Vater atmete aus und blieb erschöpft stehen, als wolle sein Körper auseinander fallen. Eine lange Zeit verging, bevor er sich über den Büffel beugte und die Axt aus seinem Schädel zog. Das Tier blökte dumpf. Es versuchte ein paar Mal aufzustehen, schaffte es aber nicht. Es konnte den Kopf nicht heben, weil die Halssehnen durchtrennt waren. Dann fingen seine einzelnen Körperteile einer nach dem anderen an zu zucken, als das Gehirn die Kontrolle über sie verlor. Der Vater meiner Schwiegermutter hob die Axt erneut und schlug wild zu. Die Wunde über dem Hals des Büffels vergrößerte sich. Die Luft fuhr pfeifend aus seinem
Weitere Kostenlose Bücher