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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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es vor Wut. Die Dorfkinder versammelten sich am Ufer, um zuzusehen, wie das Boot der Nestsammler in See stach. Auch ihre Freundinnen waren dabei: Haiyen, die «Seeschwalbe», Chaosheng, das «Gezeitenkind», Haibao, der «Seehund» … Am Dorfeingang stand eine alte Frau auf einem Felsen und rief: Haili, meine kleine Robbe, komm sofort nach Hause! Zögernd ging der kleine Junge zurück ins Dorf, aber vorher sagte er noch zu meiner Schwiegermutter: Yanni, kannst du eine Schwalbe für mich fangen? Wenn du mir eine lebendige Schwalbe mitbringst, schenke ich dir eine Murmel. Er zeigte ihr die Murmel, die er in der Hand hielt. Ich war überrascht, dass meine Schwiegermutter als Kind einen so poetischen Namen getragen hatte: Yanni, die Schwalbentochter. Mein Gott! Das klang fast wie Jenny, der Vorname von Frau Karl Marx. Traurig sagte meine Schwiegermutter: Der kleine Seehund ist jetzt Kommandant eines Militärdistrikts. Offensichtlich war sie mit der Karriere meines Schwiegervaters unzufrieden. Was ist so toll an einem Militärkommandanten?, fragte meine Frau. Mein Vater ist Professor und Spezialist für Brennereiwesen; das ist mindestens so imposant wie irgendein Kommandant. Meine Schwiegermutter warf mir einen Blick zu. Sie hält immer zu ihrem Vater, beschwerte sie sich. Das ist der Elektra-Komplex, sagte ich. Meine Frau sah mich mit durchbohrendem Blick an. Meine Schwiegermutter sagte: An dem Tag, an dem das Boot in See stach, war das aufregendste Ereignis der Versuch, den Büffel an Bord zu kriegen.
    Wasserbüffel sind sehr intelligent, sagte sie. Besonders wenn sie nicht kastriert sind. Das Tier wusste, was ihm bevorstand: Sobald es auf dem Anlegesteg stand, wurden seine Augen blutrot. Unter gewaltigem Schnaufen zerrte es am Halteseil und riss meinen Onkel fast von den Füßen. Meine Schwiegermutter sagte: Eine schmale abwärts geneigte Laufplanke verband das Boot mit den Steinstufen des Anlegestegs. Darunter war nichts als schmutziges Meerwasser. Die Vorderhufe des Büffels blieben an der Kante der Laufplanke stehen, und er weigerte sich, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Mein Onkel zerrte mit aller Kraft wie ein Säugling an der Mutterbrust an dem eisernen Nasenring und zog dem armen Tier die Nase lang. Der Schmerz muss unerträglich gewesen sein. Aber der Büffel sperrte sich weiter und weigerte sich, an Bord zu gehen. Wenn es um Leben und Tod geht, kommt es da auf eine Nase an? Meine Schwiegermutter sagte, ihre übrigen Onkel seien ihrem Bruder zu Hilfe geeilt, um den Büffel an Bord zu kriegen, aber sosehr sie sich auch anstrengten, der Büffel habe sich nicht gerührt. Nicht nur das, der Büffel schlug auch noch aus und brach einem ihrer Onkel das Bein.
    Meine Schwiegermutter sagte, ihr jüngster Onkel sei nicht nur stärker gewesen als seine Brüder, sondern auch intelligenter. Er nahm seinem Bruder den Strick aus der Hand, führte den Wasserbüffel am Strand entlang und sprach beruhigend auf ihn ein. Die Hufe hinterließen ihre Spuren im Sand. Schließlich zog er sich das Hemd aus, wickelte es dem Büffel um den Kopf und führte ihn ganz alleine über die Laufplanke. Die hölzerne Planke bog sich unter dem Gewicht des Tiers. Das Tier wusste, wie gefährlich der Weg war, und setzte einen Huf so vorsichtig vor den anderen wie eine Zirkusziege, die über das Drahtseil läuft. Als der Büffel endlich im Boot war, gingen auch die Menschen an Bord, und die Laufplanke wurde weggestoßen. Zischend fuhren die Segel hoch, und der jüngste Onkel meiner Schwiegermutter nahm dem Büffel das Hemd vom Kopf. Das Tier zitterte. Seine Hufe trommelten auf das Deck. Es stieß einen klagenden Schrei aus. Allmählich verschwand das Land in der Ferne, und die Insel tauchte immer gewaltiger aus dem Nebel auf, der sie umgab: ein Feenberg, ein Elfenpalast.
    Meine Schwiegermutter sagte, nachdem ihr Vater und ihre Onkel das Boot in einer Bucht verankert hatten, habe ihr jüngster Onkel den Büffel an Land gebracht. Alle machten ein feierliches, geradezu religiöses Gesicht. Sobald sie den einsamen, von Dornbüschen bedeckten Boden betreten hatten, gebärdete sich der nervöse Büffel so ruhig und gehorsam wie ein Lamm. Die blutrote Farbe verschwand aus seinen Augen, und ein tiefes Meerblau trat an ihre Stelle. Es war das gleiche Blau wie das der Augen des jüngsten Onkels meiner Schwiegermutter.
    Meine Schwiegermutter sagte, es sei Abend gewesen, als sie auf der verlassenen Insel landeten. Über dem Meer flackerten rote Lichter,

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